Nochmal mit dem Leben davongekommen

Tommy Orange:"Verlorene Sterne"(Verlag Hanser) | 8.9.2024
Es ist immer schwierig, den Ahnen dankbar zu sein, wenn ein Trauma und die Geschichte der Kolonisierung die Ausmaße des Seins bestimmen. Geschwächt durch Vertreibung und Unterdrückung der indigenen Bevölkerung Amerikas, fühlen sich Orvil Red Feather heute und sein Urgroßvater Jude Star vor hundertfünzig Jahren unfähig, Teil einer Gesellschaft zu sein, die Ihnen Ihre kulturelle Identität verweigert. Peyote und Alkohol waren die Mittel des Urgroßvaters, um aus- und durchzuhalten. Orvil, der bei einem Massaker auf einem Powwow angeschossen und aus dem Krankenhaus Schmerzmittel abhängig entlassen wird, verliert sich viele Jahre in einer schweren Drogensucht. Während seine Grandma und die beiden Brüder alle Hebel in Bewegung setzten, Orvil nicht gänzlich an Oxycodon, Tilidin und andere Opiode zu verlieren, merkt keiner, dass die Familie immer mehr auseinanderbricht...
Ohne Wurzeln und auch heute noch eher geduldet als anerkannt, hat die indigenen Bevölkerung Amerikas, wenig Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben. Nicht jeder ist so stark, wie Orvil, der es irgendwann schafft den Drogen den Kampf anzusagen oder  Bruder Lony, der nach Jahren der Obdachlosigkeit beschließt, nach Hause zu kommen um bei seinen Leuten zu sein. Es ist tröstlich zu lesen, dass es eine Möglichkeit von Glück gibt, gut zu wissen, was aus Orvil nach "Dort Dort"  geworden ist und nicht alle Sterne verloren sind!
So großartig wie traurig und herzzerreißend!
Wunderbar übersetzt von Hannes Meyer.
Lesen!
Unbedingt lesen!

Dann waren's nur noch drei

Coco Mellors: "Blue Sisters" | 27.8.2024
New York, London, L.A. und Paris. Die Schwestern  Avery, Bonnie und Lucky versuchen so weit voneinander wie möglich, mit Drogen und Alkohol oder  exzessivem Sport, den tragischen Tod der vierten Schwester zu verarbeiten. Bonnie lässt sich freiwillig fast zu Brei schlagen, im letzten Kampf im Ring wird sie nur durch ihren Trainer, der "das Handtuch wirft", gerettet (dieser Begriff kommt nämlich tatsächlich aus dem Boxsport).Während Lucky, ein gefeiertes Model, sich in Drogen, Magersucht und Alkoholexzessen verliert, arbeitet Avery sich als Anwältin um Sinn und Verstand. Bevor die Schwestern sich in ihrem Elternhaus wieder vereinen, passiert viel Chaos, Selbstzerstörung und Verzweiflung. Gekränkte Eitelkeiten und verletzte Gefühle fahren Achterbahn mit den Blue Sister und den Leser:innen.  Das Leben ist manchmal ein Ritt auf der Rasierklinge und doch gibt es Hoffnung und ganz hinten ein Licht im Tunnel...
Fast so toll, wie Cleopatra &Frankenstein. Vielleicht auch genauso gut, nur anders. Diese Schwestern rauben einem den Schlaf, springen direkt in unsere Herzen  und bleiben lange dort. Wieder so ein Pageturner und wieder großartig übersetzt von Lisa Kögeböhn. 
Lesen!
Unbedingt lesen!
 

Bad Banks!

Isabelle Lehn:"Die Spielerin" (Verlag S- Fischer) | 19.8.2024
A., eine graue Maus aus Niedersachsen, geht nach Zürich um Investmentbankerin zu werden. Sie ist klug, kann gut mit Zahlen umgehen, versteht schnell komplizierte Zusammenhänge, hat gute Ideen. Leider ist A. was sie ist:  eine Frau. Nachdem sie kapiert hat, dass die männlichen Kollegen sie niemals in den Inner Circle einlassen werden, sie nur ausnutzen und mit dummen sexistischen Witzen beleidigen, arbeitet A. auf eigenen Faust. Keiner hat sie auf dem Schirm und sie kann vor den Augen Ihrer Vorgesetzten fette Deals abwickeln. Von Zürich über Moskau, Berlin, Tokio London und New York, handelt A. over the counter mit Wertpapieren, Schuldverschreibungen, Privatplazierungen und Derivaten, dass die Schwarte kracht. Arrangiert Briefkastenfirmen und offshore Konten für mafiöse Auftraggeber. Drogen, Menschenhandel, Prostitution, Waffengeschäfte...Alles dabei, was schlecht und unredlich ist. A. hat einen großen Plan, spinnt ein Netzt aus Lügen und Intrigen, mit viel Geld als Lockmittel. Ihre Opfer sind schnell gefunden,  A. führt sie alle vor und ad absurdum, nimmt sie aus, wie die Weihnachtsgänse und lässt selbst genug Federn um glaubwürdig zu wirken. Natürlich fällt ihr irgendwann alles auf die Füße aber auch das ist Teil ihres abgekarteten Spiels...
Herrlich! Und erschreckend zugleich, was hinter der Macht der Banken steht und wie das große Geld gemacht wird. A. Ist eine Amazone, die den dummen Männern das Bein stellt und sich selbst in die verdiente  pole position bringt. Man gönnt ihr am Ende jeden Cent, ist fast ein bisschen neidisch und will sofort sämtliche Konten auflösen !
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Unbedingt Lesen!

Die Banalität des Bösen

Nora Bossong: "Reichskanzlerplatz" (Verlag Suhrkamp)z | 19.8.2024
Bevor Hans Magda Quandt kennenlernt, die junge Stiefmutter seines Freundes Hellmut, fühlt er sich ausschließlich und verbotenerweise zu seinem Schulkameraden hingezogen. Eine spätere "Zweckaffäre" zwischen Hans und  Hellmuts schöner Stiefmutter endet jäh, als Magda Joseph Goebbels kennenlernt und heiratet. An der Seite Gobbels wird sie zur deutschen Frau und Vorzeigemutter, verkauft ihre Ideale, ihr Gewissen und ihre Freiheit an die NSDAP. Hans lebt gefährlich, Magda wendet sich von ihm ab, ist verblendet und treu ergeben an der Seite ihres Mannes, der mit Hitler das Reich gegen die Wand fahren wird...
Wie verbort kann man sein, wie blind sich stellen und was wäre gewesen, hätte Magda einen besseren Einfluss auf ihren Mann gehabt? Wer mit dem Feuer spielt, kommt darin um. Das Ende der großen "Madame Quandt", ihren sechs Kindern und Goebbels ist bekannt und doch wird hier eine andere, erweiterte Geschichte über die Entstehung des Bösen, über Aufstieg und Niedergang des "Dritten Reichs" erzählt. Eine Geschichte  über Schuld und Mittäterschaft. Über Dummheit, Verblendung und verpasste Gelegenheiten, den Lauf der Dinge vielleicht zu ändern...
Sehr beeindruckend!
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Unbedingt Lesen!

Rapunzel im Line-Up

Laura Naumann:"Haus aus Wind" (Verlag S. Fischer) | 5.8.2024
Johanna ist jung, erfolgreich, nicht ohne finanzielle Mittel und kreuzunglücklich. Irgendwie aus der Welt gefallen, landen sie und Gerd (ein herrlich kluger Alter-Ego-Stoffgoldhamster) für eine Auszeit an der Algarve. Johanna bleibt länger als gedacht, lernt surfen, verliebt sich in schöne, wilde Frauen, schließt sich ungewöhnlichen Lebensgemeinschaften an und versucht ihren Angsattacken auf die Spur zu kommen. Während sie sich an ihrer Kindheit und Jugend abarbeitet, sich dem traurigen Ende ihrer Beziehung mit Rosa stellt, reitet sie immer größere Wellen ab, spürt sich endlich wieder und traut sich was. Solange nicht klar ist, wie es im Leben ohne Strand und Wasser weitergehen kann, lässt Jo sich treiben und versucht sich auszutarieren. Erst als sie einer sexy Betrügerin aufsitzt, wieder auf sich allein gestellt ist, wird ihr bewusst, dass sie keine Angst vor ihren eigenen Entscheidungen haben muss. Dass man Fehler machen darf und nichts in Stein gemeißelt ist. Das Leben ist wie eine große Welle, man kann sie nicht verhindern aber man kann sie bezwingen.
Was für ein frisches, queeres, allgemeingültiges (Liebe ist immer kompliziert), hinreißendes Buch.
Ein seltener Glücksfall neuer deutscher Literatur. Dank Hamster Gerd gib es viel zu schmunzeln und zu lachen ohne albern zu sein. Geschickt gemacht, liebe Laura Naumann! Chapeau!

Von Stockholm-Syndrom bis Blutrache.

Liz Nugent:"Seltsame Sally Diamond" (Verlag Steidl) | 8.7.2024

Nachdem  Sally Diamond ihren verstorbenen Vater im Müll entsorgt hat, und sehr befremdlich auf die allgemeine Aufregung im Dorf reagiert, wird tief in ihrer Vergangenheit gegraben. Und da kommt allerhand Unerfreuliches zutage. Die vermeintlich taube und autistische Adoptivtochter Sally, heißt eigentlich Mary und ist Opfer eines schrecklichen Entführungsdramas viele Jahrzehnte zuvor.  Nach dem Tod des Adoptivvaters ist Sally ganz auf sich allein gestellt, muss lernen, sich in die Gesellschaft einzugliedern, fremden Menschen zu vertrauen, eigene Entscheidungen zu treffen und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Nach Durchsicht ihrer Krankenakten wird sie mit dem ganzen Ausmaß der Vergangenheit konfrontiert. Sie erfährt die tragische Geschichte ihrer leiblichen Mutter, versteht warum ihre eigenen Erinnerungen erst ab dem siebten Lebensjahr abrufbar sind und noch einiges mehr. Je intensiver sie nachforscht, umso mehr Personen treten in ihr Leben. Es gibt durchaus noch weitere Opfer und Familienangehörige, die Sallys Nähe suchen. Aus unterschiedlichen Gründen. Bald wird klar, dass man Traumata nicht einfach abschneiden kann und dass es nicht bei dieser einen Entführung geblieben ist...
Heiliger Bimbam! Das ist eine Wuchtbrumme, ein Pageturner und "kalt-über-den-Rücken-Läufer"!
Was für ein spannendes Meisterwerk der Unterhaltung. Sally ist liebenswert, einzigartig ehrlich und direkt, trägt ihr Herz auf der Zunge und hält uns oft den Spiegel vor.
Großes irisches Kino! Grandios übersetzt von Kathrin Razum.
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Unbedingt lesen!
 

 

 

 

 


Beste Freunde!

Caroline O'Donoghue:"Die Sache mit Rachel" (Verlag Kiepenheuer & Witsch) | 4.7.2024
Rachel liebt Fred. Fred liebt James - und seine Frau Deenie. Die wiederum keine Ahnung vom Doppelleben ihres Mannes hat. Denn weder Dr. Fred Byrne (angebeteter Literaurprofessor) noch James, trauen sich zu outen. Während Rachel und James beste Freunde werden, ihr bisschen Leben zusammenschmeißen und Fred beiden das Herz bricht, fordert die Finanzkrise ihren Tribut. Irland, vor allem Cork, hat es besonders hart getroffen. James und Rachel müssen sich geografisch neu aufstellen, ihre Wohngemeinschaft auflösen, Dr. Byrne verlassen und lernen auf sich allein gestellt zu sein. Einen zweiten James gibt es auch in London,eine zweite Rachel in New York leider nicht. Und bis alle wieder vereint und irgendwie zufrieden sind, fließen viele Tränen, jede Menge Alkohol, Blut und sonstige Körpersäfte. Viel Gras und noch mehr Träume lösen sich in Luft auf aber am Ende wird alles gut. Erwachsen zu sein ist manchmal gar nicht so schlecht, kommt halt immer darauf an, was man daraus macht...
Herrlich und zum Brüllen komisch. Wie sich alle abmühen, interessant, erfolgreich,  schön, klug und sexy zu sein (ohne facebook,instagram und co.)  ist erfrischend authentisch und nahezu herzzerreißend. Ein ständiges Auf- und Ab der Gefühle. Eine Ode an das Leben, die Liebe und die Freundschaft. Wohl dem, der eine hat!
Dieses Buch macht gute Laune! Liegt sicher auch an der feinen Übersetzung von Christian Lux.
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Unbedingt Lesen!

So geht Tatort!

Jakob Nolte:"Die Frau mit den vier Armen" (Verlag Suhrkamp Nova) | 23.6.2024
Kommissarin Rita Aitzinger, leichtes Tourette Syndrom, etwas zwanghaft und gefangen in dem Bestreben für Recht und Ordnung zu sorgen, hat in Hannover eine mysteriöse Mordserie aufzukären. Unglücklichen jungen Männer, die keinen gesellschaftlichen Beitrag leisten, Frauen mitunter schlecht behandeln und  zu nichts zu gebrauchen sind, wird der Garaus gemacht. Zwischen Burgerläden, Dating-Apps, abgehalfterten Kneipen und unzuverlässigen Zeugen, meandern Aitzinger und ihre Kolleg:Innen durch Hannovers Tage und Nächte, verfransen sich in falschen Schlussfolgerungen und verstolpern beinahe die erste richtige Spur. Ein schüchterner Streifenpolizist, teurer französicher Wein und ein Opernbesuch backstage, führen das Ermittlerteam dann aber doch in die richtige Richtung...
Herrlich, so wünscht man sich den Tatort am Sonntag. Bisschen abgründig, ziemlich spannend und voller schräger Figuren, die Polizeiarbeit glaubhaft darstellen. Ermittler sind auch nur Menschen, können nicht zaubern, müssen essen und schlafen und haben selbst die ein oder andere "Leiche im Keller".
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Unbedingt lesen!

Wehret den Anfängen!

Paul Lynch:"Das Lied des Propheten"(Verlag Klett-Cotta) | 23.6.2024
Nach einer Befragung der neu gegründeten irischen Geheimpolizei, verschwindet Larry Stack, bekannter Gewerkschafter, spurlos. Seine Frau Eilish setzt alle Hebel und Beziehungen in Bewegung, um den Aufenthaltsort ihres Mannes zu erfahren. Doch die neue Regierung Irlands, die immer radikaler und autoritärer wird, verbreitet Angst und Schrecken, niemand traut sich Eilish zu helfen und keiner weiß, was da wirklich vor sich geht. Wer kann, verschafft sich ein Ausreisevisum oder verdingt sich dem neuen Regime. Während Eilish durch die Straßen irrt, ihren Mann sucht, den dementen Vater davon abhält, zwischen Straßensperren und Barrikaden unter die Kugeln zu kommen, driften die beiden erwachsenen Söhne in unterschiedliche Lager ab. Der eine geht in den Widerstand, der andere gerät auf patriotische Abwege. Straßensperren, Lebensmittelknappheit Strom- und Wasserausfall, ständige Passkontrollen und unvermittelte Festnahmen, lassen das Leben aus dem Ruder laufen und zeichnen das Bild einer bevorstehenden Apokalypse. Eilish köntte ihre Tochter Molly, Säugling Ben und sich selbst in ein anderes Leben retten. Der Preis, den sie dafür bezahlen müsste, den Mann und die Söhne aufzugeben, ist hoch. Wie wird sie sich entscheiden?
Paul Lynch zeigt ein Horrorszenario auf, dass nicht weit vom aktuellen Zustand unserer durchgedrehten Welt liegt und wurde dafür mit dem Booker Prize 2023 ausgezeichnet. Wehret den Anfängen! Ist die Demokratie nichts mehr wert, sind Recht und Ordnung nur noch Auslegungssache des jeweiligen Regims, wird es uns an den Kragen gehen und die Dose der Pandora nicht mehr zu schließen sein.
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Israel war schon immer eine komplizierte Angelegenheit

Lavie Tidhar: "Maror" (Verlag Suhrkamp) | 26.5.2024
Von 1974 bis 2008 wird episodenhaft eine Geschichte Israels erzählt, die erschreckend und ziemlich verstörend ist. Cohen und Avi, zwei korrupte Polizisten, die ihren eigenen Gesetzen folgen und ihre Beziehungen von Tel Aviv über Los Angeles, den Libanon bis in den tiefsten Dschungel Kolumbiens spielen lassen. Es werden Waffen, Diamanten und Drogen geschmuggelt, Auftragsmorde begangen und Rebellen ausgebildet. Amerika, Russland, Europa und der Nahe Osten - alle sind irgendwie involviert. Keiner lässt sich in die Karten schauen. KGB, CIA und der Mossad spionieren sich gegenseitig aus.  Contras, militante Orthodoxe, Söldner und die FARC treiben ein wildes Verwirrspiel mit- und gegeneinander, lassen Leichen und tonnenweise Koks verschwinden und die Leser:in stets im Trüben fischen. Während Cohen patriotisch in Israel alle Fäden miteinander verknüpft, erliegt Avi seiner Gier nach Geld und Macht. Und auch Alexei, Nir, Aslan,Carlos und Kippy...sind bereit für Geld oder Drogen oder beides über alle Grenzen zu gehen. Alle sind unsympathisch, brutal und leben von einem Tag auf den anderen... Es ist kompliziert und verlangt einem einiges ab. Thriller? Fehlalarm! Da thrillt wirklich gar nichts. Aber es zieht einen magisch in den Bann, hat man sich erstmal drauf eingelassen. Man versteht nicht alles und will doch alles wissen und der verwirrenden Geschichte auf den Grund gehen.
Lavie Tidhar zeigt eine ungemütliche Innenansicht des israelischen Staates und übt herbe Kritik am Staatsapparat. Gerade ein sehr heikles Thema. Trotzdem: ein starkes Buch, an dem man sich schön abarbeiten kann. Aber Achtung: nichts für zarte Gemüter und Angsthasen. Übersetzt von Conny Lösch!
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