Emmanuel Carrère: "Yoga" (Verlag Mattes & Seitz) | 5.3.2022
Während E. im Retreat versucht zur Ruhe zu kommen und vielleicht Inspiration für ein kleines feines Buch über Yoga zu finden, passiert (in größeren Abständen) folgendes:
ein Anschlag auf Charlie Hebdo, bei dem einer seiner besten Freunde erschossen wird. Eine bipolare Depression, die E. in selbst verordnete Elektroschocktherapie führt. Eine Flüchtlingswelle überschwemmt Griechenland.
Das Leben ist fragil und nichts ist für immer oder von dauerhaftem Bestand. Im Guten wie im Schlechten. Und ist nicht Chaos nötig um einen "tanzenden Stern zu gebären"? Solange wir nur um uns selbst kreisen, bemerken wir die Gegensätze der Welt kaum. Sobald man aus sich heraustritt, die Blase verlässt kann der nächste Agbrund sehr nah sein.
Auch Yoga ist Gegensatz. Wenn man die Lehre ernsthaft befolgt, ist es mehr als nur ein- und ausatmen. Viel mehr als nur bei sich zu sein. Als E. sich auf Leros einer Gruppe jugendlicher Geflüchteter anschließt, den anders Haltlosen Trost und Zuversicht spenden kann, findet er eine Möglichkeit, seine tiefe Verzweiflung, seine Zerissenheit und seine Selbstmordgedanken an die Leine zu legen. Zurück in Paris ist der Tunnel noch längst nicht durchschritten doch am Ende bereits ein Licht zu sehen.
Natürlich ist "Yoga" kein einziges Jammertal! Es wird geliebt und gelacht und herrlich rotzig über die Dummheit der Menscheit philosphiert. Weil autofiktional, weiß man dass dem Autor jedes noch so absurde Scharmützel durchaus zu glauben ist. So ehrlich spricht kaum jemand vom eigenen Scheitern, der eigenen Unfähigkeit, trotz aller Komfortzonen glücklich zu sein. Ohne Nabelschau zu betreiben! Und was ist das überhaupt: Glück? Ein seltener Zustand der inflationär gehandelt wird und nie von langer Dauer ist. Hat man das begriffen, ist das Leben eigentlich gar nicht so kompliziert. Und da der Autor durchaus über sich selbst lachen kann, dürfen wir es auch. Und schließlich bleibt ihm sein Yoga und das hilft immer!
Ein wichtiges Buch! Ein ganz und gar großartiges Buch. Da will man nur lesen und wissen wie es sich ausgeht. Und dann ist man traurig, dass das Buch zu Ende ist. Aber auch geläutert und denkt im besten Fall: aufstehen, Krone richten, weiter machen.
Einatman - ausatmen!
Lesen!
Unbedingt lesen!
Und ab auf die Matte!