Andrew O'Hagen"Caledonian Road" (Verlag Ullstein) | 18.11.2024
In der Zeit zwischen Post-Covid und dem Brexit, wird Professor Campell Flynn, gut verheiratet mit der Tochter einer Gräfin und durchaus auf der Höhe seines Ruhms, alles verlieren, was seine berufliche und gesellschaftliche Reputation ausmacht. Seine eigene Eitelkeit, die radikalen Ideen eines seiner Studenten und die immer wiederkehrende Angs vor Armut (Flynn kommt aus ärmlichen Verhältnissen), lassen den Professor Grenzen überschreiten, deren Ausmaß ihm erst bewusst wird, als es längst zu spät ist.
Während sein elitäres, liberales Umfeld (Industrielle, Politiker, zwielichtige Geschäftsmänner) in Skandale und kriminelle Machenschaften verwickelt sind, keinem mehr zu trauen ist und die Steuerschulden immer größer werden, erliegt der Professor den Verheißungen der neuen Bitcoin-Währung und lässt sich in die geheime Welt des Darknets einführen. Was mit Cannnabis-Bestellungen "gegen Schlaflosigkeit" beginnt endet mit einer folgenschweren Entscheidung, die sich nicht mehr rückgängig machen lässt...
In diesem großen Gesellschaftsroman aus dem Vereinigten Königreich wird alles verhandelt, was die Welt zusammenhält und gleichzeitig zu einem schlechten Ort gemacht hat. Es geht um Menschenhandel, Drogen und korrrupte Politiker. Um toxische Männlichkeit, Gewalt und Prostitution. Aber auch um Liebe, Queerness und die Frage nach Identität. Es geht um das Ende einer Ära: den Fall des "alten weißen Mannes" mit seinen übergriffigen Gewohnheiten. Und es geht darum, dass gut und böse sehr nah beieinander liegen und man nicht immer eine Wahl hat.
Was für ein Opus magnum! Spannend von der ersten bis zur letzten Seite, mit einem Showdown, der einem den Atem stocken lässt. Ganz, ganz großes Kino!
Hervorragend überbersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié!
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Unbedingt lesen!
Nicolaj Lozinski: "Stramer" (Verlag Suhrkamp) | 4.11.2024
Weil Nathan Stramers Auswanderung nach New York kläglich gescheitert ist, kehrt er reumütig nach Polen, zu seiner Jugendliebe Rywka zurück. Eine Familie wird gegründet, Nathan hat Großes vor. Doch ein Zimmer, sechs Kinder und der immer wiederkehrenden "Magenkatarrh" vereiteln Stramers Pläne, die zu Erfolg und Wohlstand der Familie führen sollen, stets aufs Neue. Was immer Nathan Stramer anpackt, macht er selbst zunichte. Seine Frau und auch die Kinder glauben längst nicht mehr an die "meschuggen" Ideen des Vaters und müssen selbst Hand anlegen, um die große Familie über Wasser zu halten. Vor dem Hintergrund des aufziehendem Antisemitismus gehen die erwachsenen Söhne bald ihre eigenen Wege, agieren im Untergrund, verschreiben sich dem Kommunismus oder tauchen unter. Als Hitler den Ribbentrop-Molotow-Pakt kündigt, die Sowjetunion angreift und in Polen einmarschiert, wird den Stramers klar, dass auch gefälschte Papiere nicht mehr weiterhelfen. Noch einmal kommt die gesamte Familie zusammen um eine gemeinsame Flucht zu planen...
Ein wunderbarer Roman über eine "ganz normale" jüdischen Familie, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts versucht, über die Runden zu kommen.
Eine warmherzige Geschichte aus dunklen Zeiten, über die Verbundenheit einer Familie und die Kraft im größten Unglück füreinander da zu sein.
Wunderbar aus dem Polnischen übersetzt von Renate Schmidgall.
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Unbedingt lesen!
Una Mannion:"Sag mir, was ich bin"(Verlag Steidl) | 23.10.2024
Rubys Mutter Deena ist spurlos verschwunden. Um alle Spuren zu verwischen, entführt ihr Vater die kleine Ruby von Philadelphia nach Vermont. In der Abgeschiedenheit der Inseln im Lake Champlain, lernt Ruby wie man jagt und fischt, sich die Natur zunutze macht. Ihr Vater Lucas unterrichtet sie zu Hause und es dauert lange, bis das Kind eine Schule besuchen darf. Streng behütet, versucht Lucas Ruby von anderen Menschen fern zu halten. Ständig auf der Hut, ihren Vater nicht zu verärgern, bleibt Ruby viele Jahre für sich. Doch je älter sie wird, versucht sie etwas über ihre Mutter und ihre Vergangenheit zu erfahren. Als ihre Tante Nessa, die nie daran gezweifelt hat, dass Lucas der Mörder ihrer Schwester ist, Rubys Aufenthalt ausfindig macht, gelingt es ihr Fotos und Botschaften an Ihre Nicht zu schicken. Ruby spürt, dass sie die Briefe vor ihrem Vater verstecken muss und dass es ein schreckliches Geheimnis um das Verschwinden ihrer Mutter gibt. Sie fängt an, auf eigene Faust nach ihrer Vergangenheit zu forschen. Hat ihre Mutter sie wirklich im Stich gelassen, ist einfach davongelaufen, wie ihr Vater immer behauptet? Langsam kommt ein Teil der Erinnerung zurück, die nicht mit der Geschichte ihres Vaters zusammenpasst. Mehr und mehr stellt Ruby ihren Vater in Frage und kommt der Wahrheit gefährlich nahe. Während sie versucht sich seinem Kontrollwahn zu entziehen, treibt Lucas ein perfides Spiel, um sein Geheimnis zu wahren...
Das ist so spannend! Ein echter Pageturner! Eine Mischung aus Kriminal- und Coming of Age Roman.
Großartig übersetzt von Tanja Handels.
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Unbedingt lesen!
Colson Whitehead:"Die Intuitionistin"(Verlag Hanser) | 6.10.2024
Nachdem Lila Mae Watson, als erste schwarze Fahrstuhlinspektorin die "Praline" der Stadt, das legendäre Funny-Briggs-Building zugeteilt bekommt, zwingen unangenehme Umstände, die angesehene Intuitionistin unterzutauchen. Kurz nach Watsons Inspektion, saust der Aufzug ungebremst und im freien Fall in die Tiefe. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit und schnell wird klar, dass mafiöse Machenschaften und Sabotage hinter dem Absturz stecken. Der Clan der Empiriker, alt eingesessene Rechner und Schraubendreher, will sich die absolute Macht über die Personenaufzüge zurückholen und außerdem stehen Wahlen an. Schwarze "Emporkömmlinge", die die Fähigkeit besitzen, Fehlfunktionen zu erspüren, statt umständlich und nicht immer fehlerfrei zu errechnen, passt nicht ins Bild der weißen New Yorker Oberschicht. Lila Mae soll als Bauernopfer dienen und mit ihr ein für alle Mal ein Exempel statuiert werden. Doch so leicht lässt Watson sich nicht von der Schwelle schubsen. Auf der Suche nach der Blackbox, dem goldenen Kalb der Fahrstühle, scheut die kluge, junge Frau keine Gefahr, ihren Namen reinzuwaschen...
Himmel, Arsch und Zwirn! Ist das großartig! Ein Feuerwerk der Sprache. Eine verrückte, aufregende Mischung aus Gesellschaftsroman, Sience Fiction und Thriller. Als Debut bereits im Jahr 2000 erschienen, aktueller denn je, neu und sensationell übersetzt von Henning Ahrens.
Großes Kino!
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Unbedingt lesen!
Tommy Orange:"Verlorene Sterne"(Verlag Hanser) | 8.9.2024
Es ist immer schwierig, den Ahnen dankbar zu sein, wenn ein Trauma und die Geschichte der Kolonisierung die Ausmaße des Seins bestimmen. Geschwächt durch Vertreibung und Unterdrückung der indigenen Bevölkerung Amerikas, fühlen sich Orvil Red Feather heute und sein Urgroßvater Jude Star vor hundertfünzig Jahren unfähig, Teil einer Gesellschaft zu sein, die Ihnen Ihre kulturelle Identität verweigert. Peyote und Alkohol waren die Mittel des Urgroßvaters, um aus- und durchzuhalten. Orvil, der bei einem Massaker auf einem Powwow angeschossen und aus dem Krankenhaus Schmerzmittel abhängig entlassen wird, verliert sich viele Jahre in einer schweren Drogensucht. Während seine Grandma und die beiden Brüder alle Hebel in Bewegung setzten, Orvil nicht gänzlich an Oxycodon, Tilidin und andere Opiode zu verlieren, merkt keiner, dass die Familie immer mehr auseinanderbricht...
Ohne Wurzeln und auch heute noch eher geduldet als anerkannt, hat die indigenen Bevölkerung Amerikas, wenig Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben. Nicht jeder ist so stark, wie Orvil, der es irgendwann schafft den Drogen den Kampf anzusagen oder Bruder Lony, der nach Jahren der Obdachlosigkeit beschließt, nach Hause zu kommen um bei seinen Leuten zu sein. Es ist tröstlich zu lesen, dass es eine Möglichkeit von Glück gibt, gut zu wissen, was aus Orvil nach "Dort Dort" geworden ist und nicht alle Sterne verloren sind!
So großartig wie traurig und herzzerreißend!
Wunderbar übersetzt von Hannes Meyer.
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Unbedingt lesen!
Coco Mellors: "Blue Sisters" | 27.8.2024
New York, London, L.A. und Paris. Die Schwestern Avery, Bonnie und Lucky versuchen so weit voneinander wie möglich, mit Drogen und Alkohol oder exzessivem Sport, den tragischen Tod der vierten Schwester zu verarbeiten. Bonnie lässt sich freiwillig fast zu Brei schlagen, im letzten Kampf im Ring wird sie nur durch ihren Trainer, der "das Handtuch wirft", gerettet (dieser Begriff kommt nämlich tatsächlich aus dem Boxsport).Während Lucky, ein gefeiertes Model, sich in Drogen, Magersucht und Alkoholexzessen verliert, arbeitet Avery sich als Anwältin um Sinn und Verstand. Bevor die Schwestern sich in ihrem Elternhaus wieder vereinen, passiert viel Chaos, Selbstzerstörung und Verzweiflung. Gekränkte Eitelkeiten und verletzte Gefühle fahren Achterbahn mit den Blue Sister und den Leser:innen. Das Leben ist manchmal ein Ritt auf der Rasierklinge und doch gibt es Hoffnung und ganz hinten ein Licht im Tunnel...
Fast so toll, wie Cleopatra &Frankenstein. Vielleicht auch genauso gut, nur anders. Diese Schwestern rauben einem den Schlaf, springen direkt in unsere Herzen und bleiben lange dort. Wieder so ein Pageturner und wieder großartig übersetzt von Lisa Kögeböhn.
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Unbedingt lesen!
Isabelle Lehn:"Die Spielerin" (Verlag S- Fischer) | 19.8.2024
A., eine graue Maus aus Niedersachsen, geht nach Zürich um Investmentbankerin zu werden. Sie ist klug, kann gut mit Zahlen umgehen, versteht schnell komplizierte Zusammenhänge, hat gute Ideen. Leider ist A. was sie ist: eine Frau. Nachdem sie kapiert hat, dass die männlichen Kollegen sie niemals in den Inner Circle einlassen werden, sie nur ausnutzen und mit dummen sexistischen Witzen beleidigen, arbeitet A. auf eigenen Faust. Keiner hat sie auf dem Schirm und sie kann vor den Augen Ihrer Vorgesetzten fette Deals abwickeln. Von Zürich über Moskau, Berlin, Tokio London und New York, handelt A. over the counter mit Wertpapieren, Schuldverschreibungen, Privatplazierungen und Derivaten, dass die Schwarte kracht. Arrangiert Briefkastenfirmen und offshore Konten für mafiöse Auftraggeber. Drogen, Menschenhandel, Prostitution, Waffengeschäfte...Alles dabei, was schlecht und unredlich ist. A. hat einen großen Plan, spinnt ein Netzt aus Lügen und Intrigen, mit viel Geld als Lockmittel. Ihre Opfer sind schnell gefunden, A. führt sie alle vor und ad absurdum, nimmt sie aus, wie die Weihnachtsgänse und lässt selbst genug Federn um glaubwürdig zu wirken. Natürlich fällt ihr irgendwann alles auf die Füße aber auch das ist Teil ihres abgekarteten Spiels...
Herrlich! Und erschreckend zugleich, was hinter der Macht der Banken steht und wie das große Geld gemacht wird. A. Ist eine Amazone, die den dummen Männern das Bein stellt und sich selbst in die verdiente pole position bringt. Man gönnt ihr am Ende jeden Cent, ist fast ein bisschen neidisch und will sofort sämtliche Konten auflösen !
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Unbedingt Lesen!
Nora Bossong: "Reichskanzlerplatz" (Verlag Suhrkamp)z | 19.8.2024
Bevor Hans Magda Quandt kennenlernt, die junge Stiefmutter seines Freundes Hellmut, fühlt er sich ausschließlich und verbotenerweise zu seinem Schulkameraden hingezogen. Eine spätere "Zweckaffäre" zwischen Hans und Hellmuts schöner Stiefmutter endet jäh, als Magda Joseph Goebbels kennenlernt und heiratet. An der Seite Gobbels wird sie zur deutschen Frau und Vorzeigemutter, verkauft ihre Ideale, ihr Gewissen und ihre Freiheit an die NSDAP. Hans lebt gefährlich, Magda wendet sich von ihm ab, ist verblendet und treu ergeben an der Seite ihres Mannes, der mit Hitler das Reich gegen die Wand fahren wird...
Wie verbort kann man sein, wie blind sich stellen und was wäre gewesen, hätte Magda einen besseren Einfluss auf ihren Mann gehabt? Wer mit dem Feuer spielt, kommt darin um. Das Ende der großen "Madame Quandt", ihren sechs Kindern und Goebbels ist bekannt und doch wird hier eine andere, erweiterte Geschichte über die Entstehung des Bösen, über Aufstieg und Niedergang des "Dritten Reichs" erzählt. Eine Geschichte über Schuld und Mittäterschaft. Über Dummheit, Verblendung und verpasste Gelegenheiten, den Lauf der Dinge vielleicht zu ändern...
Sehr beeindruckend!
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Unbedingt Lesen!
Laura Naumann:"Haus aus Wind" (Verlag S. Fischer) | 5.8.2024
Johanna ist jung, erfolgreich, nicht ohne finanzielle Mittel und kreuzunglücklich. Irgendwie aus der Welt gefallen, landen sie und Gerd (ein herrlich kluger Alter-Ego-Stoffgoldhamster) für eine Auszeit an der Algarve. Johanna bleibt länger als gedacht, lernt surfen, verliebt sich in schöne, wilde Frauen, schließt sich ungewöhnlichen Lebensgemeinschaften an und versucht ihren Angsattacken auf die Spur zu kommen. Während sie sich an ihrer Kindheit und Jugend abarbeitet, sich dem traurigen Ende ihrer Beziehung mit Rosa stellt, reitet sie immer größere Wellen ab, spürt sich endlich wieder und traut sich was. Solange nicht klar ist, wie es im Leben ohne Strand und Wasser weitergehen kann, lässt Jo sich treiben und versucht sich auszutarieren. Erst als sie einer sexy Betrügerin aufsitzt, wieder auf sich allein gestellt ist, wird ihr bewusst, dass sie keine Angst vor ihren eigenen Entscheidungen haben muss. Dass man Fehler machen darf und nichts in Stein gemeißelt ist. Das Leben ist wie eine große Welle, man kann sie nicht verhindern aber man kann sie bezwingen.
Was für ein frisches, queeres, allgemeingültiges (Liebe ist immer kompliziert), hinreißendes Buch.
Ein seltener Glücksfall neuer deutscher Literatur. Dank Hamster Gerd gib es viel zu schmunzeln und zu lachen ohne albern zu sein. Geschickt gemacht, liebe Laura Naumann! Chapeau!
Liz Nugent:"Seltsame Sally Diamond" (Verlag Steidl) | 8.7.2024
Nachdem Sally Diamond ihren verstorbenen Vater im Müll entsorgt hat, und sehr befremdlich auf die allgemeine Aufregung im Dorf reagiert, wird tief in ihrer Vergangenheit gegraben. Und da kommt allerhand Unerfreuliches zutage. Die vermeintlich taube und autistische Adoptivtochter Sally, heißt eigentlich Mary und ist Opfer eines schrecklichen Entführungsdramas viele Jahrzehnte zuvor. Nach dem Tod des Adoptivvaters ist Sally ganz auf sich allein gestellt, muss lernen, sich in die Gesellschaft einzugliedern, fremden Menschen zu vertrauen, eigene Entscheidungen zu treffen und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Nach Durchsicht ihrer Krankenakten wird sie mit dem ganzen Ausmaß der Vergangenheit konfrontiert. Sie erfährt die tragische Geschichte ihrer leiblichen Mutter, versteht warum ihre eigenen Erinnerungen erst ab dem siebten Lebensjahr abrufbar sind und noch einiges mehr. Je intensiver sie nachforscht, umso mehr Personen treten in ihr Leben. Es gibt durchaus noch weitere Opfer und Familienangehörige, die Sallys Nähe suchen. Aus unterschiedlichen Gründen. Bald wird klar, dass man Traumata nicht einfach abschneiden kann und dass es nicht bei dieser einen Entführung geblieben ist...
Heiliger Bimbam! Das ist eine Wuchtbrumme, ein Pageturner und "kalt-über-den-Rücken-Läufer"!
Was für ein spannendes Meisterwerk der Unterhaltung. Sally ist liebenswert, einzigartig ehrlich und direkt, trägt ihr Herz auf der Zunge und hält uns oft den Spiegel vor.
Großes irisches Kino! Grandios übersetzt von Kathrin Razum.
Lesen!
Unbedingt lesen!