Cop Novel - "The Wire" trifft auf "Die Brücke"

Liz Moore: "Long Bright River" (H.C.Beck) | 27.5.2020
Kensington. Ein ehemaliger Arbeiterbezirk, derzeit größter Drogenumschlagplatz der amerikanischen Ostküste. Eine typische Drogentote (Postituierte mit Überdosis) entpuppt sich als Mordopfer "mit Polizeieinfluss". Weil keiner ihrer männlichen Kollegen der Sache nachgehen will, ermittelt die Polizistin Mickey auf eigene Faust.
Ahnungslos stolpert sie in ein Wespennest aus Drogenhandel und Korruption.
Konfrontiert mit einem Serienkiller und ihrer eigenen Familiengeschichte wird die couragierte Streifenpolizistin, deren Schwester schon seit ihrem sechzehnten Lebensjahr als heroinabhängige Prostituierte auf der Straße lebt, vor eine gefährliche Entscheidung gestellt...
Auch wieder so ein bisschen "Serienlesen" zwischen "The Wire" und "Die Brücke".
Gute, facettenreiche Geschichte über Menschen am Rande der Gesellschaft, Abhängigkeiten und ein korruptes Polizeisystem. Tiefgründig und dicht geschrieben und viel mehr als eine klassische "cop novel". Sogwirkung und Hochspannung garantiert.
Tolles Buch!
Lesen!
Unbedingt lesen!

Wie Netflix ohne Netflix!

Jeanine Cummins:"American Dirt" (Rowohlt) | 14.5.2020
Wer in Corona-Zeiten seriensüchtig geworden ist, kann hiermit den Entzug wagen. Egal ob man Narcos, The Americans oder Ozark auf den Leim gegangen ist - Drogenkartelle, Mafiabosse und Co. geben sich auch hier ein Stelldichein.
Acapulco, einstiges Mekka der Reichen und Schönen, wird von den "Gärtnern", einem neuen Drogenkartell "übernommen".
Wer nicht spurt, sieht sich die Radieschen von unten an, wer die Wahrheit über die brutale Korruption ans Licht bringen will, wird ebenfalls ausgeschaltet.
Während ein  investigativer Journalist vergeblich versucht, die mexikanischen Paten zu überführen, bleibt seiner Frau und dem gemeinsamen Sohn nur noch das Ticket für "La Bestia". Wie viele verarmte Mexikaner müssen Lydia und der kleine Lucca die gefährliche Tour auf dem Zug quer durch Mexiko, Richtung amerikanische Grenze antreten.
Und bevor das traumatisierte Mutter-Sohn-Paar "das gelobte Land" erreichen kann, sind sie zwischen Wüste und "Trumpland" unendlich vielen Gefahren ausgesetzt.
Krasse Bezüge zur amerikanischen Einwanderungspolitik, ordentlich und mehrere Jahre recherchiert aber kein politisches Buch! Wahnsinnig spannend und äußerst gut geschrieben!
Ein echter Pageturner!
Lesen!
Unbedingt lesen!

Orientalische Schelmereien.

Dirk Stermann. "Der Hammer" (Rowohlt) | 2.3.2020

Was er da wieder ausgegraben hat, dieser geniale Stermann! Den wundersamen Aufstieg und Fall des "Joseph Hammer". Selbst ernannter Orientalist und nicht "Lampe im Hause" sondern "Stern am Himmel, will er sein. Nachdem ihn die Orientalische  Akademie mit allerhöchster Auszeichnung dekoriert aber dennoch im stinkenden Wien des neunzehten Jahrhunderts behalten will, wird der junge Musterschüler zum selfmade "Dolmetscher im diplomatischen Dienst".
Klug aber sich permanent selbst überschätzend, gerät der gelehrte Tausendsassa in allerhand denkwürde Abenteuer, im kulturell hoch entwickelten Orient. Zehn verschiedene Sprachen sprechend, macht sich Hammer auf die Reise. Eine große Tat muss her, die endlich sein verkanntes Genie beweist. Ein vollständiges Exemplar der Geschichte von Tausendundeiner Nacht gilt es zu finden und zu übersetzen... ( und die ist tatsächlich bis heute maßstabgebend )
Schon Goethe lobte Hammers "Diwan des Hafis" und nahm ihn zum Vorbild. Von Metternich bis Napoeon trifft Joseph Hammer auf viele verschiedene kulturelle Kreise, bereist die halbe Welt, kommt zu Ruhm und hohen akademischen Ehren. Und dennoch verbrennt sich "Ikarus" am Ende die Flügel...
Dieses Buch is der Hammer!
Alles wahr und doch ist's ein Roman! Großartig, fulminant mit viel Wissensvermittlung en passant!
Elegant, witzig, spannend und großartig geschrieben!  Wer Kehlmanns "Tyll" gern gelesen hat, wird dieses Buch lieben! 
Lesen!
Unbedingt lesen!
 


Mit dem Kamel durchs Nadelöhr

Téa Obreht: "Herzland" (Rowohlt Verlag) | 25.2.2020
Arizona im neunzehnten Jahrhundert. Es ist heiß, das Wasser knapp und Noras Mann schon seit Tagen überfällig. Die erwachsenen Söhne gehen ihre eigenen Wege und Sohn Toby, nach einem Sturz vom Pferd auf einem Auge blind, ist nicht wirklich eine Hilfe. Im Schuppen wurde eingebrochen und ein monströses Ungeheuer soll sein Unwesen treiben. Nora, eine starke selbstbewusste Frau, besetzt vom Geist ihrer verstorbenen Tochter, fängt langsam an, alles in Frage zu stellen. Ihre Liebe, ihre Ehe, die Erziehung der Jungs, die völlig aus dem Ruder zu laufen scheinen, ihre Berechtigung als Mutter und Frau in der Gesellschaft.

Mächtige Viehzüchter bestimmen die politischen Verhältnisse. Indianer werden abgeschlachtet oder "vereinnahmt" und können einzig durch Angriffe aus dem Hinterhalt letzte Stellungen verteidigen. Die Gründung Amerikas, zwischen Asche und Staub,  Verdrängung und Sklaverei hat viele Parallelen zur heutigen  Situation dieses ambivalenten Kontinents. Kriminelle Machenschaften versus Menschlichkeit. Wer anders ist und zu einer Minderheit gehört, fliegt raus bzw. darf erst gar nicht "rein". Ein Outlaw, der als kleiner Ganove angefangen hat, sich zum "Systhemsprenger" und meist gesuchten Mann des mittleren Westens entwickelte, wird für Nora die finale Herausforderung...
Was für ein großes, großes Buch!
Wer "Butchers's Crossing" mochte und mein Lieblingsbuch "Tage ohne Ende" gerne gelesen hat, wird "Herzland" lieben.
Abenteuer, starke Frauen, abtrünnige Männer, Geister die man rief und nicht mehr los wird... Alles drin, was ein gutes Buch braucht!
Lesen!
Unbedingt lesen!
Coming soon!

Stille Wasser sind tief.

Michael Kumpfmüller: "Ach, Virginia" (Verlag Kiepenheuer & Witsch) | 20.2.2020

Ganz fein und ohne sich des Ichs der großen Schriftstellerin anzumaßen, erzählt Kumpfmüller von den letzten 10 Tagen  Virginia Woolfs. Von ihrer asexuellen Beziehung zu ihrem Ehemann, ihrer fatalen Liebe zu Vita Sackville-West, dem frühen Missbrauch durch ihre Brüder, ihrem strengen Elternhaus und dem Unglück, dass jedem Glück auf dem Fuße folgt.
Eine große Todessehnsucht wohnt dieser wunderbaren, klugen Frau inne, befeuert durch schwere Depressionen und der Hoffnung auf Erlösung.
Nach einem missglückten Suizid, verlässt sie kaum noch Bett und Haus, kann weder essen noch schlafen. Einzig im Tagebuch erlaubt sie sich zu reflektieren und Zeugnis abzulegen. Während Kampfflugzeuge über Londen fliegen, kämpft die Autorin, im malerisch gelegenen Cottage in Süd England, einen aussichtslosen Koampf gegen sich selbst. Ein Kampf, der im Wasser endet, mit einem anrührenden (und viel zitierten )Abschiedsbrief an ihren Mann Leonard.
Poetisch, düster, ironisch und oft absurd komisch, ist diese Außen- und Innenasicht einer großen, ambivalenten Schrifstellerin. Eine Frau, die schon früh für ein selbsbestimmtes Leben gekämpft und geschrieben hat und folgerichtig auch desssen Ende nicht dem Schicksal überlassen wollte.
Schön traurig und traurig schön!
Aber Obacht: man sollte selbst gut gestellt sein, wenn man sich dieser literarischen Perle stellt!
Und dann aber nix wie lesen!
Unbedingt!


Nicht Fisch und nicht Fleisch.

Patrik Svensson: " Das Evangelium der Aale" ((Verlag Hanser). | 31.1.2020

Wer kennt nicht die Filmszene aus der "Blechtrommel"? Die mit dem Pferdekopf und den Aalen, die sich ekelhaft und schleimig aus Maul, Hals und Ohren schlängeln. Spätestens da war Schluss mit lecker und dem unbeschwerten Genuss einer geräucherten Delikatesse. Unverdient hat der Aal, König der Metamorphose, durch  Günter Grass den Todesstoß erhalten. Denn dieser Fisch ist alles andere als abstoßend. Er hat mehrere Eiszeiten überlebt, sich seit 200 Millionen Jahren immer neuen Lebensverhältnissen angepasst, ist  unergründlich, geheimnisvoll und wohl bald vom Aussterben bedroht.
Bereits Aristoteles  und später Sigmund Freud waren fasziniert ob der zähen Widerstandsfähigkeit des Tieres, dass sich auf dem Land fortbewegen kann, monatelang im Schlamm überlebt, hunderte von Kilometern durch dunckelste Meerestiefen reist, um sich fortzupflanzen und dann zu sterben. Das tut er nur da, wo er herkommt. Nordöstlich von Kuba und den Bahamas, aus der Sargassosee - ein Meer ohne Küsten und Inseln. Da entsteht und "vergeht" er. Und alles was dazwischen passiert, ist nahezu unerforscht obwohl sich schon viele große WissenschaftlerInnen (vor allem Rachel Carson) mit der "großen Aalfrage" beschäftigt haben.
Auf der Spur des Aals sein, heißt auch unserer Erde Untergang ins Auge sehen. Keine Eiszeit, kein Meteorit, kein Krieg hat so viel Schaden angerichtet, wie der Mensch selbst. Wer es noch immer nicht kapiert hat, versteht es vielleicht mit diesem Buch, das ganz nebenbei auch eine wunderbare Hommage an den Vater des Autors ist. Ein einfacher Mann, dessen einzige Nähe zum Sohn beim Aale angeln entstand.
Ein Buch über die Evolution, die Mysterien des Lebens, über die Schönheit der Natur und ihre Vergänglicheit.

Lesen!
Unbedingt lesen!


Treffen sich Zwei!

Markus Orths:"Picknick im Dunkeln" (Verlag Hanser) | 27.1.2020

Was, wenn Thomas von Aquin und Stan Laurel sich treffen würden? Zwischen den Welten, zwischen Himmel und Hölle. Im Nichts sozusagen.
Der Mann aus dem Mittelalter hätte genug gelebt und gedacht, wäre ganz sicher d'accord mit dem Tod. Der Mann der Moderne hingegen wäre noch lange nicht bereit, den Löffel abzugeben, sich sicher zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein... Während die Beiden das Licht am Ende des Tunnels suchen, vorsichtig vorantastend, in völliger Finsternis  aufeinander angewiesen sind, entspinnt sich ein wunderbarer Diskurs über Sein oder Nichtsein, den Sinn und Unsinn des Lebens, des Lachens und des Sterbens. Der begnadete Komiker, der immer die falschen Frauen liebte und dessen größte Liebe die zu einem Mann war,  erzählt dem Philosophen alles über Film und die Kunst andere Menschen zum Lachen zu bringen. Während Thomas von Aquin seinen lebenslangen Prozess des Denkens und Hinterfragens erklärt. Markus Orths hinreißende Biografie über zwei Männer, die unterschiedlicher nicht sein könnten und am Ende doch viele Gemeinsamkeiten haben, erzählt 700 Jahre Weltgeschichte zusammengeschnurrt auf die wesentlichen Frage, was die Welt wohl im Innersten zusammenhält und nimmt uns mit auf eine philosophische Exkursion.
Und hätten sich die beiden wirklich getroffen, hätten sie viel voneinander gelernt.
Und sie hätten sich bestimmt gut leiden können!

Was für ein charmantes Buch!
Lesen! Unbedingt lesen!


Ebony and Ivory.

Regina Porter:"Die Reisenden" (Fischer Verlag) | 16.1.2020

Von Martin Luther King bis Barack Obama erzählen zwei Familien in "zwei Farben" von ihrem amerikanischen Traum. Der junge Ire James will endlich über den Schatten seiner armen Herkunft springen und Anwalt werden. Die Afroamerikanerin Agnes will ein selbbestimmtes Leben in einer weißen Gesellschaft führen. Beide, vor allem die schöne und unbedarfte Agnes, werden vom Schicksal arg gebeutelt. Immer wieder machen Ihnen Standesdünkel und Rassismen einen Strich durch die Rechnung. In den sechziger Jahren "im Land der unbegrenzten Möglicheiten", sind für Schwarze (und arme Iren) die Lebensumstände begrenzter denn je. Es braucht viel Einfallsreichtum, Mut und einen langen Atem, bis sich das Blatt wendet. Dass die beiden Familien am Ende eine gemeinsame Zukunft haben, deren Kinder selbsbewusst und frei heranwachsen können, ist nicht nur großartig erzählt sondern lässt uns erschreckend viele Parallelen zu "Trumpistan" ziehen.
Großes Kino! Tolle Liebesgeschichte und viel zum Nachdenken.
Lesen!
Unbedingt lesen.


Unter Feinden.

Eugen Ruge: "Metropol" (Rowohlt) | 12.11.2019

Der Verfolgung durch die Nationalsozialisten gerade noch entkommen, beginnt für Charlotte und ihren Mann eine anstrengende Reise durch die Sowjetunion, mit unklarem Ausgang.
Mit Gleichgesinnten gegen Deutschland, den Faschismus und für die gute Sache (den Kommunismus) steht  Charlotte hinter Stalin. Sie arbeitet beim  Nachrichtendienst  und ist voller Überzeugung, das Richtige zu tun. Ihre Zwangsversetzung aus dem inneren Kreis der Komintern, nach Mosakau in das sagenumwobene Hotel Metropol, ist ihr ein Rätsel. Die große Säuberungsaktion Stalins scheint ihr lange eine Notwendigkeit, bevor sie merkt, dass aus Freunden Feinde werden. Eine große Welle der Denunziation  erfasst die Wartenden und dezimiert sie unaufhörlich.
Völlig willkürlich wird der "Volksfeind" von innen "ausgemerzt". Es gibt keine Regeln mehr und keine Logik. Stalins Vollstrecker verhaften und ermorden, was das Zeug hält. Hunger, Angst  und Kälte halten die verbliebenen  "Metropolisten" in Schach.
Und über jedem schwebt das Damoklesschwert des Verrats.
Völlig absurd und kaum zu glauben, dass Menschen, die die falschen Geister riefen, ihnen selbst so lange dienten und sich ihre eigenen Gräber schaufelten!
Lesen!
Unbedingt lesen!


Widerstand

Norman Ohler: "Harro & Libertas" (Kiepenheuer & Witsch) | 13.10.2019

Als die Gestapo Sonderkommission "Rote Kapelle" die gefährlichen Aktivitäten der "Gegner" rund um Harro Schulze-Boysen aufdeckt, wird Hitler vor Stalingrad in seinen Grundfesten erschüttert. Noch wird an den Endsieg geglaubt und alle vermeintlichen Verräter durch das Fallbeil oder den Strick zur Strecke gebracht. Allerdings konnten Harro und seine nahezu 150 Mitstreiter, ein enges und gut funktionierendes Netzwerk von Freundes- und Widerstandskreisen errichten.
Künstlern, Intellektuellen, Arbeitern und vor allem vielen mutigen Frauen gelang es die Machenschaften Hitlers zu unterwandern, sabotieren und die Welt vor Deutschlands Diktator zu warnen. Heimlich abgesetzte Funksprüche, spektakuläre Flugblattaktionen und gefährliche Spionage haben fast allen aus der Gruppe das Leben gekostet. Trotz schwerster Folter und unter Androhung schlimmster Strafen für Familienmitglieder, blieben die meisten Männer und Frauen standhaft - kaum einer hat die anderen der Gruppe verraten. Unvorstellbar!
Die Legende um die "Kundschaftertruppe" die das imperialistische Böse bekämpfte, wurde für diverse Ideologien von Ost und West  hübsch zurechtgebastelt und posthum der "Rotbannerorden" verliehen. Die wahre Geschichte und die Akten über die Greueltaten der "Roten Kapelle"gingen angeblich im Bombenhagel unter oder wurden als fatale Prozessspuren vernichtet.
Durch die Entdeckung versteckter Dokumente und die Befragung überlebender Zeitzeugen, konnte Norman Ohler die Geschichte dieser mutigen Widerständler rekapitulieren.
Viele Nazis wurden rehabilitiert, mit neuen Identitäten versehen und landeten nicht selten in hohen, politischen Ämtern.
Dieses Buch ist wichtig! Gerade in einer Zeit der Umbrüche, rechter Tendenzen und machtbessener Despoten jenseits unserer "Ponyhofblase" Deutschland. Es ist so wichtig genau hinzuschauen, zu Rassismus und Unterdrückung NEIN zu sagen und WIDERSTAND zu leisten, wann immer es nötig ist!
Unbeding lesen!