Weniger wäre geizig gewesen

Verena Rossbacher: "Ich war Diener im Hause Hobbs" (Verlag Kiepenheuer & Witsch) | 21.11.2018
Verena Rossbacher: "Ich war Diener im Hause Hobbs" (Verlag Kiepenheuer & Witsch)

Was macht ein junger Mann, der im Herzen eigentlich uralt und stockkonservativ, dem jeder Trend und jede Veränderung ein Graus ist? Der wird, nach Matura und teurer Butlerschule, Diener im Hause Hobbs! Als er nach Zürich, in die angesehene, sehr freundlich und weltoffene Anwaltsfamilie kommt, fühlt Christian sich herrlich strukturiert und genau richtig am Platz. Wie früher, kann er altmodische  Anzüge tragen (niemals Jeans oder etwa kurze Hosen) sich still und leise mit Kunst, Literatur oder sich selbst beschäftigen. Morgens den Toast für die Kinder schmieren, ein bisschen saugen, Reinigung und Schuster, den Gärtner und die Köchin koordinieren, die Hausherrin zum Bummeln begleiten und an den freien Tage mal in die Oper oder ins Theater gehen. Keine Aufregung, kein Stress. Wäre da nicht die Leiche im Salon gewesen, womit das Buch übrigens anfängt (und aufhören tut es auch wieder mit einer!), hätte der arme "Krischi" wahrscheinlich nie erfahren, was ihm  das Leben wirklich zu bieten hat...

Rückblickend erinnert sich der Diener aus dem Hause Hobbs an einen "schlampigen Tag" und eine einfache Geschichte. Durch Zufall kommen die alten Freunde wieder auf den Plan und hinterlassen ihre Spuren. Wann hatte alles angefangen und warum war er nicht schon bei den ersten Anzeichen misstrauisch geworden? Nichts ist, wie es scheint (Agatha Christie lässt grüßen) und alles ist möglich! Die Welt gerät aus den Fugen, so schnell kommt man gar nicht mit und "hastdunichtgesehen" ploppen die moralischen Leichen in den Kellern auf, von Zürich bis nach Feldkirchen. Was für einen Kracher hat Frau Rossbacher da wieder gezündet! Herrlich schräg, spannend, unheimlich, traurig  und zum Brüllen komisch. Dazu noch diese österreichischen Termini von"Butzerl" bis "Zwiederwurzen"... Ich liebe diesen Schmäh! "Der Junge bekommt das Gute zuletzt" trifft auf "Sechs Österreicher unter den ersten Fünf" und wird sogar noch getoppt!

Einfach grandios!
Lesen!
Unbedingt Lesen!


Frauen die pfeifen und Hähnen die krähen, muss man beizeiten die Hälse umdrehn!

Karen Duve: "Fräulein Nettes kurzer Sommer" (Galiani Berlin) | 9.11.2018
Karen Duve: "Fräulein Nettes kurzer Sommer" (Galiani Berlin)

Selbst Rousseau, der für eine "aufgeklärte" Gleichberechtigung stand, hatte was gegen Frauen die aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnahmen, ihre Stimmen nicht weiblich hoch "zwitschern" lassen wollten und ungefragt ihre Meinung heraus posaunten. Anna Elisabeth Annette (Nette) von Droste-Hülshoff war ein Enfant terrible ihrer Zeit - eine Vivienne Westwood des 19. Jahrhunderts. Zu früh auf die Welt "gerutscht", spindeldürr und glubschäugig, wird Nette lange unterschätzt. Weil sie nicht der erwünschte Sohn ist (eine Schwester gab es ja schon, warum also noch ein Mädchen?), schafft man die rebellische Göre früh in die Obhut eines Privatlehrers nach Münster. Dem wächst sie schnell über den Kopf, verehrt ihn aber glühend. Angespornt von der harschen Kritik des "Meisters" und endlosen Literaturexerzitien , merkt Nette schnell, dass kritische, sperrige Texte die ihren sind. Sie ist wissbegierig, klug und gerade heraus. Lässt sich keinen Brei ums Maul schmieren, sagt was sie denkt. Gibt bissige Antworten in alle Richtungen und ist nur schwer im Zaum zu halten. Selbst bei den hochverehrten Brüdern Grimm, verballhornt sie deren Namen, macht sich über Wilhem lustig und ist ständig auf Krawall gebürstet. Männerdomänen wie Mineralogie, Politik und Literatur besetzt Nette gegen alle Widerstände und hat überall ein Wörtchen mitzureden. Und auch in amourösen Dingen ist die Droste-Hülshoff aüßerst offensiv unterwegs! Nicht wenige junge Männer fühlen sich angezogen, von dieser "frechen" Person und erfinden delikate, oft geschmacklose Geschichten über angebliche erotischen Zusammenkünfte. Dabei hat Nette nur ein bis zwei wahre Herzensangelegenheiten zu verbuchen. Am Ende kann sie sich selbst nicht treu bleiben und es fehlt an Konsequenz.

Hätte es damals schon eine MeToo-Debatte gegeben, wäre Nette Wegbereiterin für ein aufgeklärtes, selbst bestimmtes Frauenbild geworden. Leider waren die Damen dieser Zeit dem Manne lieber Untertan, als sich von seiner Unterdrückung gemeinsam zu befreien. Die "üblichen Verdächtigen" Heinrich Heine, Hoffmann von Fallersleben, Eichendorff, Goethe und Schiller... wie auch einige unbekannte Literaten und ungute Gesellen treten auf. Man erfährt von Studentenaufruhr, Fremdenhass und politischen Unruhen. Somit wird "Fräulein Nettes kurzer Sommer" ein historisch interessantes Buch, das mehr ist als ein Porträt über die Verfasserin der "Judenbuche" und "Ballade vom Kaben im Moor". Der Annette von Droste-Hülshoff, die an sich selbst und ihren Gefühlen gescheitert ist und doch Wegbereiterin war, in einer Welt des Umbruchs.

Lesen!
Unbedingt Lesen!

 


Operation Bloody Mary!

María Cecilia Barbetta: "Nachtleuchten" (S. Fischer) | 28.10.2018
María Cecilia Barbetta: "Nachtleuchten" (S. Fischer)

Das wäre der Preis gewesen! Der Shortlist! Für mich jedenfalls. Warum? Weil's einfach ein schönes, poetisches, witziges, wahnsinnig gut geschriebenes...Ein Buch, das mal positives in die Gasse haut, trotz politischer Umstürze, Diktatur und Unterdrückung. Dass die Welt am Allerwertesten ist, wissen wir aber dass man in dieser Welt durchaus noch gut zurechtkommen kann, is' irgendwie weniger bekannt. Alle sind dermaßen mit sich und ihrer Life-Work-Balance beschäftigt, mit veganen, nachhaltigen Lebensmodellen ohne Alkohol, Zigaretten und somit auch ohne endlose, politische Diskussionen. Man bleibt zu Hause, rauchfrei, unter sich und seinesgleichen, jault und jammert auf hohem Niveau.

Anders in einem kleinen Viertel, in Buenos Aires. Kurz bevor in Argentinien die Diktatur erneut ihre hässliche Fratze zeigt, präsentiert sich ein kleines Stadtviertel mit all seinen zu- und eingewanderten Bewohnern, in visionärer Höchstform. Ballester, eine Mischung aus Prenzlauer Berg und "gutes Wedding, schlechtes Wedding", ist ein zusammengewürfelter Haufen, die noch Träume haben und alles daran setzen sie zu verwirklichen. Alvaro zum Beispiel, der Poet des Viertels und Mechaniker der legendären Autowerkstatt "Autopia", trotzt Gewalt und Umbruchstimmung mit feinster Lackarbeit und schöner Poesie.  Die Reparaturstätte ist Dreh- und Angelpunkt aller politischen Diskurse. Dort wird die Welt der Politik (und der Frauen wohlgemerkt!) mit den einfachen Termini der Automechanik erklärt. Und weil alle irgendwann mal ein Auto hatten, haben oder brauchen, laufen bei "Autopia" die meisten Fäden (und Bewohner des Viertels) zusammen. Dort lernen wir Teresa kennen, die sich aus Wut und Enttäuschung über die Planung (und Umsetzung)  eines Brüderchens, vom Thron gestoßen fühlt und fortan, als Heilige eine fluoreszierende Madonna von Haus zu Haus trägt. Celio, den schwulen Friseur der "Ewigen Schönheit" der sich endlich traut, dem poetischen"Ambrosia gesalbten" Autoschrauber seine Aufwartung zu machen. Wir treffen auf Lara (Hara) Kiri, die ihr Auto regelmäßig zu Schrott fährt, weil sie so unglücklich in ihrer Ehe verhaftet ist und längst die Orientierung und den Kompass für ihr eigenes Leben verloren hat. "E.T." Nasif Abdala, den kopflosen, traurigen Witwer der am Ende eine Männerpension eröffnet und so seinem Leben wieder einen Sinn gibt. Schwester Maria, die mit ihrer Vespa durch die Armenviertel knattert und deren Herz für die einsamen Seelen (und einen jungen Priester) schlägt... Sie alle haben kleine und große Geheimnisse, die ihr Leben nicht immer leicht machen. Und doch sind sie voller Zuversicht. Das schönste daran ist, dass alle zusammenhalten, sich gegenseitig  helfen, trösten und hin und wieder einem Abtrünnigen die Hand reichen.

Was für ein großartiges Buch! Da geht einem das Herz auf! Ich musste es ein zweites Mal lesen, bevor ich die wundersame Eleganz der Sprache und das, was zwischen den Zeilen steht, richtig genießen konnte. Man muss schon wach und aufmerksam sein(nicht fünf-Seiten-am-Abend tauglich!). Es wird viel gesprungen zwischen den Siebziger- und Fünfziger Jahren. Politik und Schrecken der Militärdiktatur, befinden sich im Subtext, ploppen nur selten und eher am Rande auf. Gut ist, wenn man ein bisschen was weiß, über Perón, Castillo und Konsorten, muss aber nicht sein. Es gibt viel Personal, dass man ins Herz schließt, sobald man sich Ihm gebührend widmet - und dann gar nicht mehr loslassen will. Auch wenn man schon längst mit anderen Büchern beschäftigt ist!

Bereit zum eintauchen? Dann volle Kraft voraus und lesen!
Unbedingt lesen!

 


Philip Roth im Schlafanzug - lost in translation!

Lisa Halliday: "Asymmetrie" (Roman Hanser) | 10.10.2018

Lisa Halliday: "Asymmetrie" (Roman Hanser)Heureka! Das ist mal wieder ein Debut! Erstens gab es gleich den Whiting Award for Fiction 2017, zweitens ist dieses Buch so jung und frisch und klug, wie vermutlich die Autorin selbst und drittens liest es sich, als wäre da ein ganz alter Hase bzw. "eine alte Häsin" am Werk gewesen.

Während die junge Alice (25 Jahre, Lektoratsassistentin) auf den alten Ezra Blazer trifft (70 plus und Autor Philip Roth), sich verliebt und eine aufregende Zeit mit ihm verbringt, wird in Heathrow ein amerikanisch-irakischer Doktorand in "Gewahrsam" genommen und die Einreise verwährt. Was zur selben Zeit geschieht, ist so himmelweit voneinander entfernt und passiert doch in ein und der gleichen Welt. Wie schmal der Grat ist, zwischen Glück und Pech, zeigt uns Halliday am Kammerstück der beiden unterschiedlichen Liebenden, sowie an der Absurdität endloser Verhöre in trostlosen Wartesälen. Politisches Kalkül und die Willkür hierarchischer Strukturen, ziehen sich als roter Faden durch unser Leben und entscheiden über Schicksale.

Während Amar seinen verschwundenen Bruder suchen will und nicht darf, weiß Ezra seine junge Liebe gut auf Abstand zu halten und nur dann in sein Leben zu lassen, wenn es passt. Man merkt, dass Ezra die Zeit auf den Fersen ist und das Alter ihn hier und da in die Knie zwingt. Diese ungleiche Liebesgeschichte, geprägt von Rückenleiden und Hüftproblemen, ist keinewegs delikat, übersexualisiert oder gar geschmacklos. Im Gegenteil! Sie ist zum brüllen komisch und wunderbar zu verfolgen, an Hand großartiger Dialoge. Philip Roth - pardon! Ezra, scheint liebenswert schrullig, witzig und ein Romantiker zu sein. Viele Stellungen funktionieren nicht mehr aber da macht die Not erfinderisch. Und es scheint völlig normal, dass sich ein junges Mädchen zu einem alten Knacker hingezogen fühlt.

Wer Philip Roth bis dahin nicht mochte, wird ihn lieben. Und am Ende kriegt der ganze Literaturbetrieb auch noch schön eins übergebraten. Der alte Fuchs bleibt wie er ist, das Mädchen wird darüber hinwegkommen und weiterhin werden Menschen verdächtigt, Böses im Schilde zu führen, nur weil sie eine andere Hautfarbe haben, schwarze Haare oder dunkle Augen. Das Leben kann so schön sein aber Gott hat einen harten linken Haken!
Achtung: dieses Buch ist kein Philip-Roth-Schlüsselroman! Macht aber jede Menge Spaß!
Lesen!
Unbedingt lesen!


Vielfältige Sünden.

Michael Ondaatje: "Kriegslicht" (Hanser Verlag) | 23.9.2018
Michael Ondaatje: "Kriegslicht" (Hanser Verlag)

1945. Der Krieg ist vorbei und England leckt seine Wunden. Noch sind viele Rechnungen offen, der kalte Krieg geht weiter und lässt Menschen spurlos verschwinden. Nathaniel und Rachel, von ihren Eltern aus "beruflichen Gründen" in der Obhut des "Falters" überlassen, wachsen zwischen illegalen Hundewetten und nächtlichen Schmuggeleien auf. Trotz halbseidener Ambitionen und viel krimineller Energie, beschützen und behüten der "Falter", der "Boxer" und die wilde Olivia die Kinder, wie ihre eigenen. Teure Privatschulen erziehen die Jugendlichen für die Gesellschaft - von den exzentrischen Freunden, alle aus Kreisen der Unterwelt, lernen die Jugendlichen fürs Leben.

Als die Mutter, ohne den Vater zurückkehrt und zwölf Jahre später ermordet wird, fängt Nathaniel an, das Leben der Eltern zu rekapitulieren. Ein Netz aus Spionage und gefährlichen Seilschaften offenbart sich und bringt, in vielen unterschiedlichen Facetten, die Menschen hinter den Menschen zu Tage. Erst da kann verstanden werden, was ihnen als Kindern unbegreiflich war und wofür die Eltern ihre Familie aufs Spiel setzten.

Wow! Was für ein tolles Buch! Immer wieder mit einem besonderen Twist, der alles über den Haufen wirft, was der Leser sich grad so schön zurecht gedacht hat.  Einzelne Beobachtungen, unzählige Fragmente und viele lose Fäden, die alle irgendwann zusammenlaufen, ergeben eine große, spannende und herzzerreißende Spionagegeschichte.

So muss gute Literatur sein. Ein Hochgenuss und macht süchtig!
Lesen!
Unbedingt lesen!


Das Recht im Faschismus vertieft!

Francesca Melandri: "Alle, außer mir" (Verlag Wagenbach) | 5.9.2018
Francesca Melandri: "Alle, außer mir" (Verlag Wagenbach)

Die italienische Kolonialgeschichte des 20. Jahrhunderts (und früher!) ist nach Franco und  Berlusconi, dem italienischen Trump, ziemlich in Vergessenheit geraten. Der Abessinienkrieg war ein völkerrechtswidriger Eroberungskrieg des faschistischen Italiens gegen Äthiopien. Und wie Italien dort  gefoltert, gelyncht, geraubt und vertrieben hat, vom Giftgaseinsatz ganz zu schweigen, wird gerne vergessen und unter den Teppich gekehrt. Erst die vielen ostafrikanischen Flüchtlinge, haben diesen Teil der Geschichte wiederbelebt und  Autoren dazu veranlasst, sich damit auseinanderzusetzen.

In diesem vordergründigen Familienroman von Francesca Melandri, geht es um eben diesen Genozid und seine Folgen, die bis in die heutige Zeit reichen. Ilaria lebt in Rom, ist weiß, Mitte Vierzig, Lehrerin, politisch engagiert und überzeugte Querulantin. Der Vater, Bigamist und familiärer "Zechpreller" enthält sich im "Demenznebel" neuerdings jeglicher politischen und geschichtlichen Verantwortung. Als eines Tages ein schwarzer Flüchtling vor ihrer Türe steht, der behauptet mit ihr verwandt zu sein, einen Ausweis mit dem gleichen, italienischen Nachnamen wie sie, ihr Vater und ihre Brüder hat, gerät Ilarias Welt total aus den Fugen. Während sie den Familienstammbaum drei Generationen zurück verfolgt, stößt sie auf politische Ungeheuerlichkeiten und Kriegsgräueltaten, die in ihrer Familie ein wohlgehütetes Geheimnis waren. Ein Vater, der ein  Buch über Rassengesetze geschrieben hat und ein Großvater, der mit einer Afrikanerin ein Kind zeugte, ihm sogar seinen Namen gab. Der lange dort lebte, während ein afrikanischer Diktator mittels Duldung italienischer "Entwicklungszusammenarbeit" Millionen von Toten hervorbrachte. In einem offenen aber sehr fernen Krieg, zwischen Äthiopien und Eritrea.

Ungeachtet der westlichen Welt und  noch gar nicht so lange her. Wer nicht zufällig im richtigen Land geboren wird, hatte schon immer "schlechte Karten". Während Ilaria sich tief in die desaströse Geschichte ihrer Familie gräbt, wird dem geflüchteten "Neffen" das Aufenthaltsrecht erneut verweigert und die Abschiebung droht... Schon wieder ein Flüchtlichsdrama? Ja und nein. Soll man das lesen? Ja, unbedingt! Unserere Welt ist dermaßen aus dem Gleichgewicht geraten und war letztlich zu keiner Zeit ein guter Ort für alle Menschen. Zumindest, seit das Paradies die Pforten dicht gemacht hat. Und wir haben nur diese eine Welt und irgendwie müssen wir alle darin zurechtkommen!

Am Anfang ein bisschen holprig, aber dann wird's richtig gut und man kann nicht aufhören zu lesen. Ganz schön krass teilweise. Menschen verachtend und rational oft nicht fassbar.

Trotzdem:
Lesen!
Unbedingt lesen!


Da kommt ein Mensch. Das Buch der Stunde!

Juan Gómez Bárcena: "Kanada" (Verlag Secession) | 28.8.2018

Seit Jonathan Littell "Die Wohlgesinnten" geschrieben hat, ist mir kein vergleichbarer Roman über den Holocaust begegnet. Ein Einzelschicksal und doch allumfassend, der komplette Wahnsinn und stellvertretend für alle Opfer. Einer, der ein KZ überlebt hat, sich schon deshalb mehr als Täter, denn als Opfer fühlt, schließt sich, endlich in Freiheit, erneut in die Welt des Lagers ein. In seiner Wohnung, in seinem Raum, in seinem Kopf - in Kanada. Einer der wenigen abgegrenzten Plätze im Lager, die das Überleben garantierten. Doch nicht ohne Preis. Eine Schuld, die man niemals mehr begleichen kann...

Kaum auszuhalten ist dieses bedrückende Kammerspiel, dieser innere Wettlauf mit dem Tod. Ein Mensch kann viel ertragen aber nicht verarbeiten und vor allem nicht, sich selbst vergeben! In Zeiten von Heimatparteien, unkritischem Patriotismus, Leit- und Lagerkultur ist dieses Buch so wichtig und sollte Pflichtlektüre werden. Wir dürfen unser schönes Land schätzen und lieben. Stolz darauf sein, können wir allerdings erst, wenn so etwas nie wieder passiert. Etwas mehr Demut, weniger Selbstüberhebung und die Fähigkeit, zu begreifen, dass auch diese dunkle Seite der Geschichte zu uns gehört, nicht wegzudenken, zu reden oder gar zu vergessen ist, könnte hilfreich sein.

Ein wichtiges Buch! Und auch wenn es schwer zu verdauen ist und weit über die Schmerzgrenze geht:
Lesen!

 


Springen oder fallen - Dschihad für Anfänger.

Jakob Hein: "Die Orient - Mission des Leutnant Stern" (Galiani Berlin) | 25.8.2018
Jakob Hein: "Die Orient - Mission des Leutnant Stern" (Galiani Berlin)

Um Kaiser Wilhelm II. einen schnellen Sieg zu bescheren und den Ersten Weltkrieg gleich im Keim zu ersticken, soll ein wohlorganisierter Dschihad es richten. Eine als Zirkustruppe getarnte muslimische "Gefangenendelegation", soll in die Türkei geschmuggelt werden. Ziel ist, man halte sich fest: Muslime aller Länder und Staaten vereint mit Deutschland gegen den Rest der Welt!  "Und jetzt kommst Du!" würde meine Großmutter sagen und ich verstünde das erste Mal, was damit gemeint ist. So verrückt das auch klingt, die Idee von Leutnant Stern und Konsorten ist genial, wenn auch nicht durchführbar und von zweifelhafter Nachhaltigkeit. Tatsächlich aber passiert und in den Geschichtsbüchern festgehalten. Zwischen Postdamer Platz und Konstantinopel wird die ungeheuerliche Geschichte einer Reise erzählt, die Münchhausen oder Till Eulenspiegel sich nicht besser hätten ausdenken können.

Herrlich! Grotesk und völlig absurd! Im Schnelldurchlauf wird dezidiert ein Stück europäische Geschichte erzählt und die frühe Verbindung Deutschlands zum Islam, hübsch veranschaulicht. Alles wahr und nichts erfunden! Diese Quellen muss man erst mal entdecken und dann noch in so einen Schelmenroman verwandeln. Wie dieser "Fabulator" Jakob Hein in einem Streich gleich alle "geschichtlichen Fliegen" mit einer Klappe schlägt, ist ein echter Hammer!

Lesen!
Unbedingt lesen!


Ein bisschen Seethaler, ein wenig Agota Kristof und ganz viel Rytisalo!

Minna Rytisalo "Lempi" (Verlag Hanser) | 23.8.2018
Minna Rytisalo "Lempi" (Verlag Hanser)

Lempi, Kaufmannstochter ist hübsch, keck und abenteuerlustig. Aus einer Laune heraus, wettet sie mit ihrer Zwillingsschwester, dass sie sich in den ersten Mann verlieben kann, der den väterlichen Laden betritt. Glücklicherweise ist es der ansehnliche junge Bauer Viljami, den das Schicksal trifft. Nach der Hochzeit nimmt der Bursche seine Lempi mit auf den familiären Hof, nicht ohne für seine zarte, die Arbeit nicht gewöhnte, Frau eine Magd anzuheuern. Während eines kurzen Sommers in Lappland entdecken die beiden sich selbst und ihre tiefe Liebe zueinander, spielerisch und äußerst ungewöhnlich für diese Zeit. Dann wird Viljami in den Krieg berufen. Als er wiederkommt, ist seine Frau verschwunden, hat angeblich mit einem Deutschen das Weite gesucht. Die Magd und zwei Kinder sind noch bzw. wieder am Hof, um den Bauern in Empfang zu nehmen...

Wahnsinn! Dieses Buch macht einen fertig! Das Unheil schwelt auf jeder Seite, man ahnt bald Schlimmes und will es doch nicht wahrhaben. Wer war Lempi? Und vor allem wo?  Aus unterschiedlichen Perspektiven wird erzählt und jedes Mal ist Lempi eine Andere! Einmal gibt es eine Stelle, die das Geheimnis auflöst. Und die liest man immer wieder und denkt: gibt's doch gar nicht! Oder: hab ich's mir doch gedacht!

Total irre, dieses Buch! Meine Entdeckung! Meine Empfehlung!

Lesen!
Unbedingt Lesen!


Schnitzel oder Waschmaschine.

Maxim Biller: "Sechs Koffer" (Kiepenheuer & Witsch) | 18.8.2018
Maxim Biller: "Sechs Koffer" (Kiepenheuer & Witsch)

Spätestens als Onkel Dima Maxim vorrechnet, dass man für ein Schnitzel in Zürich eine Waschmaschine in Polen bekommt, weiß man wo der Hase lang läuft. Kommunismus, Sozialismus, Kapitalismus. Und man verliebt sich in diese Geschichte.  Über Hamburg, Prag, Berlin und Zürich reist der 15-jährige Ich-Erzähler, bereit ein großes Geheimnis zu lüften: Warum und durch wen wurde der Großvater damals denunziert und umgebracht? Ganz nebenbei liefert Maxim Biller dem Leser ein Lehrstück über die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Und man stellt fest, dass sich nicht wirklich etwas geändert hat. Zwischen Züricher Geschnetzeltem und den Wirren der Adoleszenz versucht der Ich-Erzähler den innerfamiliären Verrat aufzudecken, um am Ende erschrocken und resigniert festzustellen, dass das mehr Information ist, als er gebrauchen kann. Wer will schon sein eigenes Fleisch und Blut im Unrecht sehen? Gar als Mörder entlarven? Und irgendwie sind alle schuld oder auch nicht - je nach Perspektive und Personal. Jeder der Familie hat seine Leiche im Keller. Der eine hat sie nur tiefer vergraben als der andere...

Das ist toll! Ein großartiges, kurzes und kurzweiliges Schelmenstück, wo jeder sein Fett weg kriegt!

Lesen!
Unbedingt lesen!