Glueck im Unglück!

Steffen Kopetzky: "Propaganda" (Rowohlt) | 23.9.2019

Steffen Kopetzky: "Propaganda" (Rowohlt)"Allerseelenschlacht"."Blutwald". Mehr als 15 000 Tote. Völliges Versagen der US Army und letztes Aufbäumen der Deutschen Wehrmacht.

1944. John Glueck geht als "Neunzigtagewunder"nach Deutschland, um die ausgebrannten  Kameraden abzulösen. Als Angehöriger des "Department of Psychological Warfare", kurz "Sykewar" genannt, untersteht er einem besonderen Kommando und ist in geheimer Mission unterwegs.

"Propaganda" wird die Truppe um Glueck allgemein genannt und als der junge Soldat merkt, wie teuflisch, verlogen und gefährlich seine Einheit ist, rettet ihm allein die deutsche Herkunft seiner Eltern den Hals.

Wie ein "Simplicissimus Teutsch" kämpft sich Glueck, mit mehr Glück als Verstand und einem waldkundigen Indianer durch die verminte, deutsche Pampa. Während um ihn  herum die Bomben  Panzer,Häuser und Menschen zerfetzen, ganze Landstriche ausradieren und die Welt dem Untergang geweiht scheint, kommt der Indianer abhanden und Glueck irgendwie mit dem Leben davon. Nach der "Schlacht im Blutwald" ist nichts mehr, wie es einmal war und die verheerende Schlappe, die die Amerikaner da hinnehmen mussten, ist legendär aber ziemlich unbekannt.
Als Glueck viele Jahre später "nach" und in Vietnam,  die Einstellung der Vietnamesen zu den Amerikanern evaluieren soll, erfährt er Propaganda und Politik, erneut in all ihren hässlichen Facetten und stößt auf das Geheimnis der Pentagon Papers.

Durch einen Chemieunfall schwer entstellt, unansehnlich und abstoßend, wird Glueck eher nicht gesehen, als genau beobachtet. Erneut stellt er seine Fähigkeiten unter Beweis und setzt sein Leben aufs Spiel, um einen Skandal öffentlich zu machen, der ohne Propaganda niemals solche Ausmaße angenommen hätte...

Krass! Hier geht's amtlich zur Sache. Unfassbar spannend, mit einer guten Portion Situationskomik.
Man lernt viel, passt gut auf und hört genau hin, wenn die "Propaganda-Maschine" einem mal wieder von hinten, mit der Faust in's Auge...

Popaganda ist wie Religion: gut in ihrer Grundform, kann Trost spenden und Leben retten. Falsch angewendet, ist sie "Opium für das Volk", macht uns leichtgläubig und gefügig.

Tolles Buch!
Lesen!
Unbedingt lesen!


Ach du heilige Scheiße!

Jackie Thomae: "Brüder" (Hanser Berlin) | 13.9.2019

Jackie Thomae: "Brüder" (Hanser Berlin)Mick, Lebenskünstler und Partyperformer im taumelnden Berlin der Neunziger. Gabriel, Architekt und Überperformer in  England. Beide sind genial, charmant, schön anzusehen und so unterschiedlich, wie zwei Menschen nur sein können. Haben den gleichen Vater und keinen blassen Schimmer voneinander.

Idra ein junger Student aus Afrika, hinterließ in der ehemaligen DDR zwei Menschen einen Teil seiner Hautfarbe und damit den immer währenden Diskurs, über Einstellungen, Vorurteile und
Rassismen. Egal in welcher Gesellschaft, in welcher Zeit in welcher Kultur wir leben. Egal wie aufgeklärt, liberal und offen wir sind:  die Frage nach Herkunft und Heimat stellt sich uns gnadenlos. Und ist kaum schwerer zu beantworten, als in der heutigen Zeit. Tolles Buch über das Verlieren jeglichen Kontrollverlusts, das große Strahlen, den tiefen Fall und die Neuerfindung. Großartiges Buch über den Versuch der Liebe, der Männlichkeit und das Glück für immer festzuhalten.

Am Ende ist jeder mit sich allein und sollte schauen, dass er bis dahin im Reinen mit sich ist...
Das ist mal richtig gute Unterhaltung . Klug aber nicht schwer zu lesen, wahr aber nicht gleich die nächste Baugemeinschaft um die Ecke - kann jedem passieren aber doch noch  fern genug vom ganz normalen Leben.

Genau richtig! Witzig, tragisch und "selbsterklärend"! Dieses Buch braucht man wirklich!
Longlist Deutscher Buchpreis! Das wäre mal ein Gewinnerbuch und mein Tipp.

Lesen!
Unbedingt lesen!


Powwow-MC!

Tommy Orange: "Dort Dort" (Hanser Berlin) | 6.9.2019

Tommy Orange: "Dort Dort" (Hanser Berlin)Wer noch immer glaubt, der Indianer sei mit Federschmuck und Friedenspfeife, hauptsächlich in Reservaten (oder Irrenanstalten ,wo er Waschbecken durch Fenster schmeißt) anzutreffen, der täuscht sich gewaltig. Selbst Karl May hatte keinen blassen Schimmer, wer die Apachen, Cheyenne, Arapahoe, Arikara, Blackfeet...wirklich waren.

Wenn man Tommy Orange  gelesen hat, schämt man sich ein bisschen, dem Märchen, vom selbstbestimmten Indianer, so lange aufgesessen zu sein.

Längst sind die amerikanischen Natives,  nach Vertreibung (nahezu totaler Auslöschung) und  einem gefakten Leben in umzäunten "Indian Communities", zu urbanen Menschen geworden. Sie leben in den großen Metropolen, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, kommen aber nicht gegen ihre Herkunft an. "Du bist, was Du bist, weil Du es bist".

Tommy Orange, geboren in Oakland, Mitglied der Cheyenne and Arapaho Tribes, erzählt von ganz normalen "Stadtindianern", die trotz Drogen, Alkohol und exzessiver Gewalt, am Leben sind, dahin zurückfinden wollen oder es endlich mit Ihren Wurzeln verbinden möchten.
Zwölf Menschen, die ohne es zu wissen, miteinander verwoben sind, erzählen ihre Geschichte.
Alle sind nach Oakland gekommen, um das große Powwow und Ihre Traditionen zu feiern. Alle kommen gebrandmarkt, vom Leben gezeichnet, auf der Suche nach etwas oder jemand, der eine Lücke in ihrer Biografie schließen könnte.

Einer von Ihnen allerdings, kommt mit dunklen Absichten...

Was für ein Buch! Man liest atemlos, mit latenter Unruhe und fürchtet sich vor dem großen Ereignis. Da braut sich schon früh ein literarisches Gewitter zusammen und endet in einem Tsunami.

Ganz großes Kino!
Lesen!
Unbedingt lesen!


Die Entdeckung der Einsamkeit.

Delia Owens: "Der Gesang der Flusskrebse" (hanserblau) | 13.7.2019

Delia Owens: "Der Gesang der Flusskrebse" (hanserblau)Atemberaubendes Marschland in North Carolina. Die kleine Kya wird mit sechs Jahren von Ihrer Mutter verlassen. Es folgen die Geschwister, und als auch der saufende, prügelnde Vater das Weite sucht, ist das Mädchen auf sich allein gestellt. Fernab jeglicher Zivilisation gelingt es dem Kind, den Vertretern des Jugendamts immer wieder zu entwischen, bis sich keiner mehr für das "wilde, schmutzige Marschmädchen" interessiert. Zwei Tage Schule und fiese Übergriffe einiger Mitschüler machen Kya klar, dass sie in der normalen Welt nicht erwünscht ist. Ihre Freunde sind die Vögel, mit denen sie Maisbrötchen und Einsamkeit teilt und alle Tiere der Marsch, die ihr viele Überlebensstrategien beibringen.

Ein Junge aus der Nachbarschaft, Sohn eines Krabbenfischers, ist ihr wohlgesonnen und lehrt sie lesen und schreiben. Ein schwarzer Tankstellenbesitzer versorgt Kya in den ersten Jahren mit allem was sie braucht. Als aus dem Mädchen eine junge Frau geworden ist und zwei Männer in ihr Leben treten, versucht Kya auch jenseits der Marsch Fuß zu fassen.  Es gelingt ihr nicht. So entschließt sie sich endgültig für ein Leben zwischen Salzwiesen und Sandbänken. Als der beliebteste Quarterback der Küstenstadt tot aufgefunden wird, kann es natürlich nur die "Wilde aus dem Marsch" gewesen sein. Ein aufreibender Gerichtsprozess beginnt, der Kyas Leben dramatisch verändert.

Was für eine Ode an die Natur, die Entschleunigung und natürlich an die Liebe! Man riecht förmlich den Duft der Gräser und das Salz des Wassers, hört die Insekten zirpen, die Vögel singen, spürt den leisen Wind und verkriecht sich mit Kya vor donnernden Gewittern. Man fährt mit ihr in ihrem alten Kahn, stromert durch dichtes Baumgeflecht, sitzt mit klopfendem Herzen am Strand und spürt die süße Verheißung der ersten Liebe.

Ein echter Sommerschmöker. Leider sind die letzten paar Seiten dermaßen kitschig. Ich rate, nur bis Seite 445 zu lesen. Schade, dass man dieses schöne Buch am Ende so abstürzen lässt.

Aber trotzdem:
Lesen!
Unbedingt lesen!


Coming soon!

Ocean Vuong: "Auf Erden sind wir kurz grandios" (Verlag Hanser) | 29.6.2019

Ocean Vuong: "Auf Erden sind wir kurz grandios" (Verlag Hanser)Der Sohn einer vietnamesischen Bauerntochter und eines amerikanischen Soldaten schreibt Briefe an seine Mutter, die sie nie lesen wird.  Als Analphabetin, kaum englisch sprechend und alleinerziehend, versucht sie ihren Sohn und die schizophrene Großmutter über die Runden zu bringen.  Ausgebeutet in einem Nagelstudio, mit zerschundenen Händen und zermürbtem Gemüt, lässt die Mutter den Sohn durch Prügel und Arrest ihre Hilflosigkeit spüren.  Der wiederum bleibt standhaft, ohne Hass und ohne sich zu wehren. Bis er alt genug ist, ihr Einhalt zu gebieten.  Klug und sprachlich begabt muss "Little Dog" viel Schmach und Schande ertragen, bevor er seinen Platz im Leben findet.  Während der queere junge Mann endlich seine erste große Liebe zu einem amerikanischen "Übergansschwulen", der glauben will, dass sich "das" in ein paar Jahren von selbst erledigt, erlebt, muss er feststellen, dass es nicht nur kompliziert ist,  "gelb" und homosexuell zu sein...

Endlich!  Nach der Tet-Offensive, das erste Buch, das mich umhaut. Ganz anders zwar und auf nur 230 Seiten aber immerhin!  Ein Debüt, an Genialität wohl kaum zu überbieten - unglaublich, unheimlich, unverschämt gut.

Dieses Buch MUSS man lesen! Unbedingt! Das wirkt lange nach, geht tief unter die Haut und berührt die empfindlichsten Punkte.  Ein humanistisches Stück Literatur á la Steinbeck, Barry und Yanagihara.

Das Buch erscheint am 22. Juli und darf, im großen Stapel, neben Max & Mischa liegen!


I have a dream!

Colson Whitehead: "Die Nickel Boys" (Roman Hanser) | 7.6.2019

Colson Whitehead: "Die Nickel Boys" (Roman Hanser)Elwood, ein schwarzer, intelligenter, junger Mann aus armen Verhältnissen, bekommt die Möglichkeit eine Universität zu besuchen. Zur falschen Zeit, am falschen Ort, in eine vermeintliche Straftat verwickelt, landet der kluge Sechzehnjährige jedoch in einer Besserungsanstalt für jugendliche Straftäter - der Nickel Academy.

Gewalttätige Ku Klux Klan Anhänger treiben hier Ihr Unwesen. Rassistische, pädophile Wärter und sadistische Lehrer quälen und missbrauchen die Jungen ohne Rücksicht auf Verluste. Wer es wagt aufzumucken, kommt in's "Eishaus" zur Sonderbehandlung und verschwindet, in der Regel, auf Nimmerwiedersehen. Weiße Jungs werden bevorzugt behandelt, schwarzen Insassen, geht es an den Kragen und andere Körperteile.

Im Florida der Sechziger Jahre,  versucht Elwood sich mit Erinnerungen an Reden von Martin Luther King und den "Sitzplatzboykotts" der mutigen Rosa Parks über Wasser zu halten und sich nicht brechen zu lassen. Dass viele Jungen nie aus der Anstalt zurückkommen, verwundert zunächst niemanden und wird erst Jahrzehnte später relevant. Als in der Nähe der ehemaligen Anstalt eine Art Massengrab gefunden wird und einer der Nickel-Überlebenden an die Öffentlichkeit geht, wird eine tragische  Geschichte von höchster Kriminalität, Korruption, Menschenverachtung und Mord aufgedeckt.

Basierend auf der wahren Begebenheit der "Dozier School for Boys", in Marianna (Florida) hat Colson Whitehead ("Underground Railroad") erneut den tief verwurzelten Rassismus Amerikas unter die Lupe genommen.

Und da bleibt nicht viel Gutes übrig!


"Worstward ho"

Johan Harstad: "Max, Mischa & die Tet-Offensive" (Verlag Rowohlt) | 21.3.2019

Johan Harstad: "Max, Mischa & die Tet-Offensive" (Verlag Rowohlt)Mein Buch 2019! Eine Geschichte, auf die ich, seit dem "Halbbruder" und "Ein wenig Leben", lange gewartet hab.
Eine Geschichte über Heimat, Familie, Freundschaft, Musik, Theater, Kino, sich (und die besten Freunde) verlieren und neu (er)finden... über alles, was uns ausmacht. Eine Geschichte, die das Leben schreibt, die man sich wünscht oder die man für ein Lügenmärchen hält, wenn man sie von anderen hört. Eine Geschichte, wie ein Lieblingskleidungsstück, dass immer gemütlicher wird, je länger man es trägt.

Max aus Stavanger, hat eine Schwester, coole und liebevolle Eltern, einen besten Freund, gute Schulnoten, kennt in seiner Straße alles und jeden, macht Schulausflüge, trinkt sein erstes Bier, raucht die erste Kippe, verdient sich den ersten Kuss...Alles so wie es sein soll, wenn man später von einer glücklichen Kindheit erzählen will. Heimlich schauen er und seine Kumpels immer wieder "Apocalypse Now" (es ist die Zeit, in der Väter oder Onkel in Vietnam gekämpft haben), spielen Krieg und ahnen nicht, welchen Einfluss der Vietnamkrieg und seine Folgen, auf Max Familie und sein weiters Leben haben wird. Wie später auch 9/11. Die Mutter ist eine überzeugte Anhängerin der AKP (m-l!). Der Vater, eher ein kommunistischer Mitläufer, beschließt irgendwann sein Arbeiterklassendasein an den Nagel zu hängen und im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, seinen Flug/Pilotenschein in den Hut zu werfen und endlich wieder einen richtigen Job zu  machen.
Für die Familie heißt das "ha det bra" Stavanger  und "high five" New York. Dann passiert alles mögliche, was eben so passiert, wenn man sich neu sortieren muss. Viele Jahre geht alles gut, Max und Schwester Ulrikke verlieren ihr Heimweh und hauen ihre Fersen in den Asphalt von Long Islands Garden City. Sie werden erwachsen, fliegen aus und verlassen ihre Eltern, die einander schon längst verlassen haben. Max erlebt seine erste große Liebe, wird Schauspiel an einer renomierten Academy of Dramatic studieren  und seinen Onkel, das schwarze Schaf der Familie und Bruder seines Vaters, auf der Upper Westside finden.Er wird mit Mischa und Onkel Ove im spektakulären Apthorp wohnen, den 11. September hautnah miterleben und erkennen, dass Krieg allgegenwärtig ist - nur die Schauplätze verändern sich. Aus Ove ist längst Owen geworden. Seine norwegischen Wurzeln hat er gegen amerikanische eingetauscht, die ihn aber nicht wirklich am Boden festhalten können. Was damals geschah, warum Ove und Max Vater seit mehreren Jahrzehnten keinen Kontakt mehr hatten, weshalb Ove nach Amerika ausgewanderte, erzählt sich zwischen, Jazz und Klassik, Kinofilmen und Theaterveranstaltungen, Kunstausstellungen, Saufgelagen, "flotten-Dreier-Beziehungen" (nicht mit Onkel Owen - Gott bewahre!) und langen Spaziergängen am East River. Zwischen Brooklyn und der Manhattan Bridge, in Harlem, der Bronx,  oder im Central Park erzählt Ove, wie er sich fand und wieder  abhanden gekommen ist. Und im Sound der 80er und 90er Jahre, bis ins Jahr 2012, lässt Johan Harstad uns am Leben und Leiden von Max Hansen teilhaben, der schon "viel zu früh, den Fehler gemacht hat, seine Seele in seine Arbeit zu legen" und sie nicht bzw in einem völlig rampunierten Zustand zurückbekommen hat. Max und seine Freunde sind am Ende nicht mehr die drei leichtfüßigen Musketiere, die das Leben rocken aber immer noch bereit, zu neuen Ufern aufzubrechen...
Wer auch immer die Protagonisten sind, Johan Harstad hat sie "laufen lassen" und wenn sie sich ihre Nasen blutig gestoßen haben, zurück geholt und in den Arm genommen. Man hat das Gefühl, da is immer einer, der sich Sorgen macht und aufpasst. Mit diesem Buch ist man "sicher", braucht sich vor nichts mehr zu fürchten und bereit für die einsame Insel.
Was für ein Buch! Ich liebe es und verneige mich tief!
Takk!
Lesen! Unbedingt lesen!


Heimweh ist schlimmer als Hunger!

Peggy Mädler."Wohin wir gehen" (Galiani Berlin) | 9.3.2019

Peggy Mädler."Wohin wir gehen" (Galiani Berlin)1688 stellte der elsässische Arzt Johannes Hofer fest, dass Heimweh bei Schweizer Söldnern, "nicht selten zu körperlicher Zerrüttung führt, im schlimmsten Fall sogar zum Tod". Heimweh hat man, wenn man seine Heimat vermisst - wenn man eine hat. Was ist Heimat? Was macht sie aus? Während Kristine sich in der Berliner Heimat um die demente Mutter ihrer besten Freundin Elli kümmert und so die Geschichte dieser Familie erzählt wird, sucht Elli in Basel ihre Bestimmung. Kommt nie richtig an, vermisst die beste Freundin schmerzlich und geht doch nicht zurück. Entfernt sich immer weiter - geographisch gesehen.

Wie alle in dieser Geschichte, sind drei Generationen, vertrieben, geflüchtet oder auf der Suche nach neuen Ufern. Von Böhmen nach Brandenburg, nach Berlin, nach Hamburg, nach... und wieder zurück. Der Balaton fungiert als "Fluchtpunkt San Francisco", wo heimlich, bis zum Mauerfall, deutsch-deutsche Freundschaft gelebt werden kann. Als die Mauer fällt, dann die große Frage: wohin? Und wenn man plötzlich, fern der Heimat, sich selbst nicht mehr kennt oder den letzten Menschen verliert, der einen am längsten gekannt hat, ist es gut, dass es da noch die beste Freundin gibt.

Was für ein schönes, kluges und wahres Buch! Auf weniger als 220 Seiten steht alles, was das Leben ausmacht. Eine Ode an die Freundschaft und die wirklich wichtigen Dinge im Leben. Herausragend und sehr berührend!

Lesen!
Unbedingt lesen!


Rache ist süß!

Pierre Lemaitre: "Die Farben des Feuers" (Klett-Cotta Verlag) | 20.2.2019

Pierre Lemaitre: "Die Farben des Feuers" (Klett-Cotta Verlag)Nachdem der große Bankier Marcel Péricourt das zeitliche gesegnet hat und seine Tochter Madeleine, als Frau, in einer Zeit, in der Frauen noch nicht einmal einen Scheck unterschreiben durften, sich plötzlich an der Spitze eines Imperiums sieht, geht, einige Zeit später, die väterliche Hinterlassenschaft ebenfalls in die ewigen Jagdgründe ein. Madeleine, die sich blind auf die rechte Hand des verstorbenen Vater verlassen hatte, wurde übel getäuscht und mittels Intrigen und bösartigen Verschwörungen der nächsten Verwandten und "treuen" Angestellten des Hauses Péricourt, entthront und in bittere Armut verbannt.

Sohn Paul, durch einen tragischen Unfall den Freuden des Lebens entrissen, findet durch ein altes Grammophon ein polnisches Kindermädchen und die Liebe zur Oper, zu einem durchaus erfüllten Dasein zurück. Madeleine, nicht hübsch aber auch nicht gerade hässlich, beißt Paul zuliebe die Zähne zusammen, hört auf, sich weiter selbst zu bemitleiden, und sinnt nach Rache.

Klug und gewitzt nimmt sie ihr Schicksal in die Hand und schlägt ihre Widersacher mit deren eigenen Waffen. Kurz vor Beginn des zweiten Weltkriegs, gerät die Welt immer mehr aus
den Fugen. Während Hitler politisch und waffentechnisch aufrüstet, graben sich die politische Parteien in Frankreich gegenseitg das Wasser ab, wird mit arabischem Öl spekuliert und, um Hitler die Stirn bieten zu können, ein spektakuläres Luftfahrtinstitut eröffnet. Bei Sabotage, Gier, Neid und großen Börsenskandalen heißt das Motto "wie gewonnen so zerronnen" und jeder versucht seine Schäfchen noch schnell ins Trockene
zu bringen. Und dazwischen, fein und gemein, Madeleine, die am Ende ein enges Netz gesponnen hat, aus dem keiner mehr ungeschoren rauskommt.

Da ist er wieder! Der große Pierre Lemaitre! Prix Goncourt für "Wir sehen uns dort oben", an dessen Geschichte er hier fast nahtlos anknüpft, die man aber auch lesen kann, ohne das vorherige Buch zu kennen. Da wird man mit 500 Seiten aufs beste unterhalten, kann kaum aufhören zu lesen und sieht die deutsch-französische Beziehung nochmal in einem anderem Licht...

Was für ein Buch! Das ist ganz, ganz große Unterhaltungsliteratur - ein Pageturner auf hohem Niveau. Ein Feuerwerk! Was soll ich sonst noch sagen?
Lesen!
Unbedingt, unbedingt lesen!


Methusalems Rache.

Hanya Yanagihara:"Das Volk der Bäume" (Hanser Berlin) | 14.2.2019

Hanya Yanagihara:"Das Volk der Bäume" (Hanser Berlin)Wollen wir ewig leben? Wenn man liest, wohin das führen kann...lieber nicht, würde ich sagen.

Als der junge Arzt Norton Perina, das erste Mal von der mikronesischen Insel U'ivu zurückkehrt, hat er nicht nur die Unsterblichkeit entdeckt, sondern auch seine fatale Liebe zu Kindern.
Während die Insel in Windeseile kolonialisiert, sprich zerstört und ausgerottet wird, die letzten, fossilen Schildkröten,für das ewige Leben , ihre Köpfe, Beine und Bäuche lassen müssen, importiert und adoptiert Perina viele (sehr viele!) Inselkinder. Alle werden gehegt, gepflegt und zu anständigen, klugen Menschen erzogen.
Als es den ersten Streit mit den bereits erwachsenen Kindern gibt, sieht Norton Perina sich plötzlich vor Gericht, des sexuellen Missbrauchs angeklagt.

Und dann tut sich ein Fass ohne Boden auf...
Wo hört Liebe auf und fängt Missbrauch an? Wie halten es fremde Kulturen mit dem sexuellen Umgang mit Heranwachsenden und warum sind gewisse Rituale dort verbreitet und natürlich? Dürfen wir das verurteilen? Dürfen wir das nachahmen?  Verstehen wir, was wir dort sehen, wo wir nicht hingehören?

Wie man sich denken kann, beruht die Figur Perinas auf einer wahren wissenschaftlichen Person: Daniel Carleton Gajdusek , Nobelpreisträger für seine bahnbrechende  Arbeit zu "Kuru", einer Creutzfeldt-Jakob und dem Rinderwahn verwandten Krankheit, die er bei einem kannibalistischen Volk Papua-Neuguineas entdeckte.

Norton Perinas Geschichte geht in Ordnung und ist, nach meinem Lieblingsbuch von Yanagihara "Ein wenig Leben" ein ganz anderer, gut gemachter Abenteuerroman. Vielleicht auch besser so. Eine ähnliche "Willem-"JB"- Malcolm-Jude- Geschichte" wäre wahrscheinlich ohnehin nicht in Frage gekommen. Obwohl ich gerne gewusst hätte,  was aus den beiden Übriggebliebenen geworden ist...

Lesen!
Unbedingt lesen!