Philip Roth im Schlafanzug - lost in translation!

Lisa Halliday: "Asymmetrie" (Roman Hanser) | 10.10.2018

Lisa Halliday: "Asymmetrie" (Roman Hanser)Heureka! Das ist mal wieder ein Debut! Erstens gab es gleich den Whiting Award for Fiction 2017, zweitens ist dieses Buch so jung und frisch und klug, wie vermutlich die Autorin selbst und drittens liest es sich, als wäre da ein ganz alter Hase bzw. "eine alte Häsin" am Werk gewesen.

Während die junge Alice (25 Jahre, Lektoratsassistentin) auf den alten Ezra Blazer trifft (70 plus und Autor Philip Roth), sich verliebt und eine aufregende Zeit mit ihm verbringt, wird in Heathrow ein amerikanisch-irakischer Doktorand in "Gewahrsam" genommen und die Einreise verwährt. Was zur selben Zeit geschieht, ist so himmelweit voneinander entfernt und passiert doch in ein und der gleichen Welt. Wie schmal der Grat ist, zwischen Glück und Pech, zeigt uns Halliday am Kammerstück der beiden unterschiedlichen Liebenden, sowie an der Absurdität endloser Verhöre in trostlosen Wartesälen. Politisches Kalkül und die Willkür hierarchischer Strukturen, ziehen sich als roter Faden durch unser Leben und entscheiden über Schicksale.

Während Amar seinen verschwundenen Bruder suchen will und nicht darf, weiß Ezra seine junge Liebe gut auf Abstand zu halten und nur dann in sein Leben zu lassen, wenn es passt. Man merkt, dass Ezra die Zeit auf den Fersen ist und das Alter ihn hier und da in die Knie zwingt. Diese ungleiche Liebesgeschichte, geprägt von Rückenleiden und Hüftproblemen, ist keinewegs delikat, übersexualisiert oder gar geschmacklos. Im Gegenteil! Sie ist zum brüllen komisch und wunderbar zu verfolgen, an Hand großartiger Dialoge. Philip Roth - pardon! Ezra, scheint liebenswert schrullig, witzig und ein Romantiker zu sein. Viele Stellungen funktionieren nicht mehr aber da macht die Not erfinderisch. Und es scheint völlig normal, dass sich ein junges Mädchen zu einem alten Knacker hingezogen fühlt.

Wer Philip Roth bis dahin nicht mochte, wird ihn lieben. Und am Ende kriegt der ganze Literaturbetrieb auch noch schön eins übergebraten. Der alte Fuchs bleibt wie er ist, das Mädchen wird darüber hinwegkommen und weiterhin werden Menschen verdächtigt, Böses im Schilde zu führen, nur weil sie eine andere Hautfarbe haben, schwarze Haare oder dunkle Augen. Das Leben kann so schön sein aber Gott hat einen harten linken Haken!
Achtung: dieses Buch ist kein Philip-Roth-Schlüsselroman! Macht aber jede Menge Spaß!
Lesen!
Unbedingt lesen!


Vielfältige Sünden.

Michael Ondaatje: "Kriegslicht" (Hanser Verlag) | 23.9.2018
Michael Ondaatje: "Kriegslicht" (Hanser Verlag)

1945. Der Krieg ist vorbei und England leckt seine Wunden. Noch sind viele Rechnungen offen, der kalte Krieg geht weiter und lässt Menschen spurlos verschwinden. Nathaniel und Rachel, von ihren Eltern aus "beruflichen Gründen" in der Obhut des "Falters" überlassen, wachsen zwischen illegalen Hundewetten und nächtlichen Schmuggeleien auf. Trotz halbseidener Ambitionen und viel krimineller Energie, beschützen und behüten der "Falter", der "Boxer" und die wilde Olivia die Kinder, wie ihre eigenen. Teure Privatschulen erziehen die Jugendlichen für die Gesellschaft - von den exzentrischen Freunden, alle aus Kreisen der Unterwelt, lernen die Jugendlichen fürs Leben.

Als die Mutter, ohne den Vater zurückkehrt und zwölf Jahre später ermordet wird, fängt Nathaniel an, das Leben der Eltern zu rekapitulieren. Ein Netz aus Spionage und gefährlichen Seilschaften offenbart sich und bringt, in vielen unterschiedlichen Facetten, die Menschen hinter den Menschen zu Tage. Erst da kann verstanden werden, was ihnen als Kindern unbegreiflich war und wofür die Eltern ihre Familie aufs Spiel setzten.

Wow! Was für ein tolles Buch! Immer wieder mit einem besonderen Twist, der alles über den Haufen wirft, was der Leser sich grad so schön zurecht gedacht hat.  Einzelne Beobachtungen, unzählige Fragmente und viele lose Fäden, die alle irgendwann zusammenlaufen, ergeben eine große, spannende und herzzerreißende Spionagegeschichte.

So muss gute Literatur sein. Ein Hochgenuss und macht süchtig!
Lesen!
Unbedingt lesen!


Das Recht im Faschismus vertieft!

Francesca Melandri: "Alle, außer mir" (Verlag Wagenbach) | 5.9.2018
Francesca Melandri: "Alle, außer mir" (Verlag Wagenbach)

Die italienische Kolonialgeschichte des 20. Jahrhunderts (und früher!) ist nach Franco und  Berlusconi, dem italienischen Trump, ziemlich in Vergessenheit geraten. Der Abessinienkrieg war ein völkerrechtswidriger Eroberungskrieg des faschistischen Italiens gegen Äthiopien. Und wie Italien dort  gefoltert, gelyncht, geraubt und vertrieben hat, vom Giftgaseinsatz ganz zu schweigen, wird gerne vergessen und unter den Teppich gekehrt. Erst die vielen ostafrikanischen Flüchtlinge, haben diesen Teil der Geschichte wiederbelebt und  Autoren dazu veranlasst, sich damit auseinanderzusetzen.

In diesem vordergründigen Familienroman von Francesca Melandri, geht es um eben diesen Genozid und seine Folgen, die bis in die heutige Zeit reichen. Ilaria lebt in Rom, ist weiß, Mitte Vierzig, Lehrerin, politisch engagiert und überzeugte Querulantin. Der Vater, Bigamist und familiärer "Zechpreller" enthält sich im "Demenznebel" neuerdings jeglicher politischen und geschichtlichen Verantwortung. Als eines Tages ein schwarzer Flüchtling vor ihrer Türe steht, der behauptet mit ihr verwandt zu sein, einen Ausweis mit dem gleichen, italienischen Nachnamen wie sie, ihr Vater und ihre Brüder hat, gerät Ilarias Welt total aus den Fugen. Während sie den Familienstammbaum drei Generationen zurück verfolgt, stößt sie auf politische Ungeheuerlichkeiten und Kriegsgräueltaten, die in ihrer Familie ein wohlgehütetes Geheimnis waren. Ein Vater, der ein  Buch über Rassengesetze geschrieben hat und ein Großvater, der mit einer Afrikanerin ein Kind zeugte, ihm sogar seinen Namen gab. Der lange dort lebte, während ein afrikanischer Diktator mittels Duldung italienischer "Entwicklungszusammenarbeit" Millionen von Toten hervorbrachte. In einem offenen aber sehr fernen Krieg, zwischen Äthiopien und Eritrea.

Ungeachtet der westlichen Welt und  noch gar nicht so lange her. Wer nicht zufällig im richtigen Land geboren wird, hatte schon immer "schlechte Karten". Während Ilaria sich tief in die desaströse Geschichte ihrer Familie gräbt, wird dem geflüchteten "Neffen" das Aufenthaltsrecht erneut verweigert und die Abschiebung droht... Schon wieder ein Flüchtlichsdrama? Ja und nein. Soll man das lesen? Ja, unbedingt! Unserere Welt ist dermaßen aus dem Gleichgewicht geraten und war letztlich zu keiner Zeit ein guter Ort für alle Menschen. Zumindest, seit das Paradies die Pforten dicht gemacht hat. Und wir haben nur diese eine Welt und irgendwie müssen wir alle darin zurechtkommen!

Am Anfang ein bisschen holprig, aber dann wird's richtig gut und man kann nicht aufhören zu lesen. Ganz schön krass teilweise. Menschen verachtend und rational oft nicht fassbar.

Trotzdem:
Lesen!
Unbedingt lesen!


Da kommt ein Mensch. Das Buch der Stunde!

Juan Gómez Bárcena: "Kanada" (Verlag Secession) | 28.8.2018

Seit Jonathan Littell "Die Wohlgesinnten" geschrieben hat, ist mir kein vergleichbarer Roman über den Holocaust begegnet. Ein Einzelschicksal und doch allumfassend, der komplette Wahnsinn und stellvertretend für alle Opfer. Einer, der ein KZ überlebt hat, sich schon deshalb mehr als Täter, denn als Opfer fühlt, schließt sich, endlich in Freiheit, erneut in die Welt des Lagers ein. In seiner Wohnung, in seinem Raum, in seinem Kopf - in Kanada. Einer der wenigen abgegrenzten Plätze im Lager, die das Überleben garantierten. Doch nicht ohne Preis. Eine Schuld, die man niemals mehr begleichen kann...

Kaum auszuhalten ist dieses bedrückende Kammerspiel, dieser innere Wettlauf mit dem Tod. Ein Mensch kann viel ertragen aber nicht verarbeiten und vor allem nicht, sich selbst vergeben! In Zeiten von Heimatparteien, unkritischem Patriotismus, Leit- und Lagerkultur ist dieses Buch so wichtig und sollte Pflichtlektüre werden. Wir dürfen unser schönes Land schätzen und lieben. Stolz darauf sein, können wir allerdings erst, wenn so etwas nie wieder passiert. Etwas mehr Demut, weniger Selbstüberhebung und die Fähigkeit, zu begreifen, dass auch diese dunkle Seite der Geschichte zu uns gehört, nicht wegzudenken, zu reden oder gar zu vergessen ist, könnte hilfreich sein.

Ein wichtiges Buch! Und auch wenn es schwer zu verdauen ist und weit über die Schmerzgrenze geht:
Lesen!

 


Springen oder fallen - Dschihad für Anfänger.

Jakob Hein: "Die Orient - Mission des Leutnant Stern" (Galiani Berlin) | 25.8.2018
Jakob Hein: "Die Orient - Mission des Leutnant Stern" (Galiani Berlin)

Um Kaiser Wilhelm II. einen schnellen Sieg zu bescheren und den Ersten Weltkrieg gleich im Keim zu ersticken, soll ein wohlorganisierter Dschihad es richten. Eine als Zirkustruppe getarnte muslimische "Gefangenendelegation", soll in die Türkei geschmuggelt werden. Ziel ist, man halte sich fest: Muslime aller Länder und Staaten vereint mit Deutschland gegen den Rest der Welt!  "Und jetzt kommst Du!" würde meine Großmutter sagen und ich verstünde das erste Mal, was damit gemeint ist. So verrückt das auch klingt, die Idee von Leutnant Stern und Konsorten ist genial, wenn auch nicht durchführbar und von zweifelhafter Nachhaltigkeit. Tatsächlich aber passiert und in den Geschichtsbüchern festgehalten. Zwischen Postdamer Platz und Konstantinopel wird die ungeheuerliche Geschichte einer Reise erzählt, die Münchhausen oder Till Eulenspiegel sich nicht besser hätten ausdenken können.

Herrlich! Grotesk und völlig absurd! Im Schnelldurchlauf wird dezidiert ein Stück europäische Geschichte erzählt und die frühe Verbindung Deutschlands zum Islam, hübsch veranschaulicht. Alles wahr und nichts erfunden! Diese Quellen muss man erst mal entdecken und dann noch in so einen Schelmenroman verwandeln. Wie dieser "Fabulator" Jakob Hein in einem Streich gleich alle "geschichtlichen Fliegen" mit einer Klappe schlägt, ist ein echter Hammer!

Lesen!
Unbedingt lesen!


Ein bisschen Seethaler, ein wenig Agota Kristof und ganz viel Rytisalo!

Minna Rytisalo "Lempi" (Verlag Hanser) | 23.8.2018
Minna Rytisalo "Lempi" (Verlag Hanser)

Lempi, Kaufmannstochter ist hübsch, keck und abenteuerlustig. Aus einer Laune heraus, wettet sie mit ihrer Zwillingsschwester, dass sie sich in den ersten Mann verlieben kann, der den väterlichen Laden betritt. Glücklicherweise ist es der ansehnliche junge Bauer Viljami, den das Schicksal trifft. Nach der Hochzeit nimmt der Bursche seine Lempi mit auf den familiären Hof, nicht ohne für seine zarte, die Arbeit nicht gewöhnte, Frau eine Magd anzuheuern. Während eines kurzen Sommers in Lappland entdecken die beiden sich selbst und ihre tiefe Liebe zueinander, spielerisch und äußerst ungewöhnlich für diese Zeit. Dann wird Viljami in den Krieg berufen. Als er wiederkommt, ist seine Frau verschwunden, hat angeblich mit einem Deutschen das Weite gesucht. Die Magd und zwei Kinder sind noch bzw. wieder am Hof, um den Bauern in Empfang zu nehmen...

Wahnsinn! Dieses Buch macht einen fertig! Das Unheil schwelt auf jeder Seite, man ahnt bald Schlimmes und will es doch nicht wahrhaben. Wer war Lempi? Und vor allem wo?  Aus unterschiedlichen Perspektiven wird erzählt und jedes Mal ist Lempi eine Andere! Einmal gibt es eine Stelle, die das Geheimnis auflöst. Und die liest man immer wieder und denkt: gibt's doch gar nicht! Oder: hab ich's mir doch gedacht!

Total irre, dieses Buch! Meine Entdeckung! Meine Empfehlung!

Lesen!
Unbedingt Lesen!


Schnitzel oder Waschmaschine.

Maxim Biller: "Sechs Koffer" (Kiepenheuer & Witsch) | 18.8.2018
Maxim Biller: "Sechs Koffer" (Kiepenheuer & Witsch)

Spätestens als Onkel Dima Maxim vorrechnet, dass man für ein Schnitzel in Zürich eine Waschmaschine in Polen bekommt, weiß man wo der Hase lang läuft. Kommunismus, Sozialismus, Kapitalismus. Und man verliebt sich in diese Geschichte.  Über Hamburg, Prag, Berlin und Zürich reist der 15-jährige Ich-Erzähler, bereit ein großes Geheimnis zu lüften: Warum und durch wen wurde der Großvater damals denunziert und umgebracht? Ganz nebenbei liefert Maxim Biller dem Leser ein Lehrstück über die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Und man stellt fest, dass sich nicht wirklich etwas geändert hat. Zwischen Züricher Geschnetzeltem und den Wirren der Adoleszenz versucht der Ich-Erzähler den innerfamiliären Verrat aufzudecken, um am Ende erschrocken und resigniert festzustellen, dass das mehr Information ist, als er gebrauchen kann. Wer will schon sein eigenes Fleisch und Blut im Unrecht sehen? Gar als Mörder entlarven? Und irgendwie sind alle schuld oder auch nicht - je nach Perspektive und Personal. Jeder der Familie hat seine Leiche im Keller. Der eine hat sie nur tiefer vergraben als der andere...

Das ist toll! Ein großartiges, kurzes und kurzweiliges Schelmenstück, wo jeder sein Fett weg kriegt!

Lesen!
Unbedingt lesen!

 


Ach wie gut, dass niemand weiß...

Dennis Lehane: "Der Abgrund in Dir" (Verlag Diogenes) | 20.7.2018
Dennis Lehane: "Der Abgrund in Dir" (Verlag Diogenes)
Rachel fliegt raus, weil sie als Journalistin über etwas berichtet, dass keiner wirklich so genau wissen will. Brian fliegt auf Rachel, seit er sie das erste Mal gesehen hat. Der fliegt aber irgendwann auf, Kumpel Caleb gleich mit - deshalb muss, wer am Ende nicht mausetot ist, zusehen dass er oder sie, rechtzeitig den Abflug macht...

Na das is mal wieder ein waschechter Lehane. Krimi, Liebesgeschichte, Psychogramm - alles in einem. Während Angststörungen und Panikattacken, das Leben von Rachel äußerst schwierig machen, der erste Ehemann, ein moralisches Arschloch, sie verlässt, Rachel ganz tief sinkt und Brian, der schöne, gute und wahre Gentleman sie unter seine Fittiche nimmt und wieder aufmöbelt, führt der ein Doppelleben, das sich gewaschen hat.

Es geht um Betrug im ganz großen Stil, "gesalzene" Goldminen und richtig dicke Fische. Es geht um Mord, clevere Cops (nicht clever genug) und gerissene Gauner, die ihrer eigenen Genialität zum Opfer fallen. Es geht um Liebe und Hass und den schmalen Grad, der dazwischen liegt, um Vertrauen und Verrat und die Frage: Wer ist Freund und wer ist Feind?  Und natürlich um jede Menge Kohle. Da ist nichts, wie es scheint und alles wird ständig in Frage gestellt! Das reinste Spiegelkabinett! Herrlich! Wer sich gut unterhalten will, ohne sich furchtbar dabei anzustrengen:
Lesen!

Unbedingt lesen! Coming soon (August 2018)

 


"Knusper, knusper knäuschen..."

David Mitchell: "Slade House" (Verlag Rowohlt) | 10.7.2018
David Mitchell: "Slade House"  (Verlag Rowohlt)Schön unheimlich, schön spannend und schön kurz! Ein ungewohnt schmales Bändchen von Herrn Mitchell, der uns ja normalerweise nur mit dicken Schinken versorgt.

Ein dunkles Haus in einer dunklen Straße, mit äußerst düsteren Bewohnern. Alle neun Jahre nur zeigt es sich, das Geisterhaus und lockt seine Opfer. Egal wie modern und aufgeklärt, klug und gebildet, alt und erfahren oder jung und respektlos die Besucher sind. Wen die Seelenfresser auserkoren haben und zu sich rufen, wird keine Gnade und kein Entrinnen finden.

Da sind sie wieder! Die üblichen Verdächtigen, ohne die David Mitchell keine Bücher mehr zu schreiben scheint: Phantome, Untote, nebulöse Vertreter vergangener Epochen, Zauberkünstler, Scharlatane. Eben noch alles ganz normal und - ZACK - ehe man sich versieht, ist es wieder soweit.  Und obwohl man ganz genau weiß, dass bereits alles verloren ist, wünscht man sich, dass  dieses eine Mal die Auserwählten doch bitte, bitte mit heiler Haut davon kommen...

Schöne Hommage an alle Schauerstücke der phantastischen Klassiker. Man denkt an Edgar Allan Poe und Lewis Carroll genau so, wie an surreale Kunst von Salvador Dalí oder M. C. Eschers "Drawing Hands". Wohliges Gruseln und tiefes Abtauchen garantiert!
Wozu braucht man dieses Buch? Keine Ahnung!

Soll man das lesen? Unbedingt!


Love is a Battlefield!

Nathalie Azoulai: "An Liebe stirbt man nicht" (Verlag Secession) | 13.6.2018
Nathalie Azoulai: "An Liebe stirbt man nicht" (Verlag Secession)
Jean Racine schreibt im 17. Jahrhundert, in einem Vorwort zu seiner großen Tragödie "Bérénice": "Eine Trennung ist keine Nichtigkeit" (...) Dieser Satz, mit seiner ganzen Geschichte, hält Bérénice aus dem 21. Jahrhundert am Leben. Nachdem ihr Liebhaber sie endgültig verlassen hat, stürzt sie sich, statt aus dem Fenster oder vor die nächste U-Bahn, in die Literatur.

Jean Racine und seine Verse, seine Dramen und Tragödien werden ihr zu den einzigen Freunden, von denen sie sich noch verstanden und ertragen fühlt. Wir alle kennen das. Mehrere Male und in epischer Breite vorgetragener Liebeskummer, halten die besten Freunde auf Dauer nicht aus. Man kann sich ja selbst kaum ertragen, wie sollen es andere? Wohl dem, der das richtige Buch zur Hand hat, um sich darin zu verkriechen und der Welt den Rücken zu kehren. Und je tiefer Bérénice in die Geschichte Racines eintaucht, um so mehr erfährt der Leser über die französische Barock-Ikone. Eine Biographie, geprägt von anfänglicher Askese durch lange Klosteraufenthalte, bis hin zu Prunk und Protz am Hofe König Ludwigs XIV. So aufregend, wie es heute kaum aufregender sein kann. In Dauerkonkurrenz mit Molière schafft es Racine irgendwann sich durchzusetzen. Wird bei Hofe aufgeführt, reüssiert und lebt doch immer am Abgrund der Gefühle. Mal himmelhoch jauchzend, mal zu Tode betrübt. Erfolg wird von harscher, zynischer Kritik abgelöst. Großer Liebe folgt großer Liebeskummer und umgekehrt. Und Racine leidet wie ein Hund. Immer und an allem. An sich, am Leben, dem Theater... und vor allem an der Liebe. Vielleicht auch nur, um sein Genie zu befeuern. Oder sich immer wieder von der Literatur Vergils und Heliodors trösten zu lassen, die ihn ein Leben lang begleiten und uns Lesern Lust machen, die alten Dichter und Epiker neu zu entdecken.

Wie kann ein Mann aus dem 17. Jahrhundert so berührend über die Liebe schreiben? Und noch dazu aus weiblicher Sicht? Das ist wirklich ungewöhnlich und sehr beachtlich! Und so schön!
Was für ein großartiges Buch! Eine Ode an die Literatur und die Sprache der Liebe.

Ob mit oder ohne Liebeskummer:
Lesen! Unbedingt lesen!