Unter Kannibalen

Jean-Marie Blas de Roblès: "Wo Tiger zu Hause sind" (S. Fischer Verlag) | 22.11.2012

Lust auf Abenteuer?
Dann gäbe es hier 800 Seiten davon. 
Vom Paradies über menschliche Abgründe zu wilden Tieren und noch wilderen Menschen hin zur Magie bis zu Drogen, Korruption, Verrat und Liebe ist alles dabei.
Ein fabelhafter, ironischer, literarischer Cocktail. Man ist fast betrunken vor lesen, beglückt, entsetzt, erstaunt und süchtig. Eine Enzyklopädie der großen Philosophen, Erfinder und Scharlatane des 17. Jahrhunderts und derer, die heute ihr Unwesen treiben.
Auf den Spuren des berühmten Jesuiten Athanasius Kircher, eine Art Polyhistor und immer auf der Höhe des damaligen Wissens, kommt ein Pressekorrespondent, im tiefsten Nordosten Brasiliens, Betrug und Lüge im großen Stil auf die Spur. Fast alles, was Kircher entdeckt oder erfunden hatte, war von diesem kuriosen Zeitgenossen gefaket - nach bestem Wissen und Gewissen, versteht sich.
Bis Champollion auftauchte, glaubte man sogar Kirchers Behauptung, die ägyptischen Hieroglyphyen entziffert zu haben. Selbst Größen wie Leibniz, Galilei oder Huygens standen im Schatten von Kirchers Ruhm und legten Wert auf dessen Einschätzungen.
Was für ein heiliges Schlitzohr dieser Kircher war! Unerschrocken, todesmutig und immer bereit, sich ins nächste Abenteuer  zu stürzen.
Gleichermaßen spannt sich ein Bogen vom brasilianischen Schreiberling  zu seiner abhanden gekommene Frau, der lebenshungrigen, durchgeknallten Tochter, einer paläonthologischen Exkursion bis hin zu Kirchers größter Entdeckung. Und am Ende gehört alles irgendwie zusammen.
Während man auf den Spuren Kirchers wandelt, streift man das "Herz der Finsternis" von Joseph Conrad, ahnt J.L. Borges und denkt ganz oft an T.C. Boyle.
Getreu nach dem Motto: "Schlimmer geht immer" stolpern die Protagonisten von einer verhängnsvollen Falle in die nächste. Und so manch einer bleibt im Dschungel zurück....
Was für ein pralles, großartiges Buch!
Lesen!


"Stand by me" auf neuseeländisch!

Carl Nixon: "Rocking Horse Road (Weidle Verlag) | 17.10.2012

Viele gute Bücher hat das Gastland Neuseeland im Gepäck gehabt. Die "üblichen Verdächtigen", wie Keri Hulme, Katherine Mansfield, Patricia Grace, Anthony McCarten...
Und viele, bislang unbekannten Autoren, die es nun unbedingt zu entdecken gilt!
Einer davon: Carl Nixon mit seinem ersten Roman Rocking Horse Road.
Eine Geschichte, die mich oft an den wunderbaren Film Stand by me, das Ende eines Sommers, aus den 1980er Jahren erinnert hat.
Auch der Roman spielt in dieser Zeit!
Am Strand von The Spit, einer schmalen Landzunge vor Christchurch, wird die Leiche der 17jährigen Lucy von dem jungen Pete Marshall entdeckt.
Erwürgt und ohne Kleidung.
Diese Ungeheuerlichkeit beendet auf dramatische Weise die Kindheit der Freunde und schweißt die 15jährigen Jungs für viele Jahre zusammen.
Lucy arbeitete oft im Milchgeschäft ihrer Eltern auf der Rocking Horse Road. Als Schwarm der männlichen Dorfjugend war sie schon immer im Fokus allgemeiner Beobachtungen und geheimer Fantasien.
Durch die Recherchen, Verdächtigungen und Beobachtungen der Jungs, die unbedingt Lucys Mörder finden wollen, wird eine Kleinstadt durchleuchtet und in Frage gestellt.
Gleichzeitig beendet die heile Welt der jugendlichen Protagonisten ein weiteres großes Ereignis.
Das südafrikanische Rugby-Team tourt durchs Land. Rassistische Übergriffe und Proteste gegen das Apartheidsregime spalten Polizei und Bevölkerung und führen das erste Mal zu gewalttätigen Zusammenstößen in The Spit. Das Leben ist kein langer, langsamer Fluss mehr sondern entwickelt gefährliche Strömungen und Strudel im Leben der Jungen. Erwachsenwerden ist angesagt!
Noch mit über 40 Jahren trifft sich die Clique, um immer wieder neue Erkenntnisse über den Fall Lucy auszuwerten - und am Ende findet sich tatsächlich so etwas, wie eine Auflösung...
Was für ein beeindruckendes Buch! Schade, dass es nicht doppelt so dick ist und man viel zu schnell am Ende der Rocking Horse Road ankommt.
Lesen!


Schwanz im Riesenrad

Lars Saaby Christensen:"Die unglaublichen Ticks des Herrn Hval" (btb) | 12.9.2012

Schreien, stampfen, spucken, fluchen.
Der Arzt Dr. Bernhard Hval, Bester seines Jahrgangs, war nur der Zweitverrückteste. Während er als Pathologe fleißig, still und respektvoll Leichen im Keller einer Osloer Privatklinik seziert, quält er seine Mitmenschen mit schonungslosen Verbalattacken und wird auch gerne mal handgreiflich.
Er blamiert und brüskiert auf Teufel komm raus und kultiviert im Laufe der Jahre jede Menge Unarten, die ihm das Leben schwer machen. Von Grimassenziehen und Armschwingen (das er abrupt einstellt, als er von diesem lächerlichen Hitler mit gleichem Armtick erfährt), bis hin zur Angst vor Spiegeln, Waschzwang, Kaufzwang....
Ein Tick ersetzt den anderen - schlimmer geht immer. Weder Frau noch Karriere halten den armen Dr. Hval davon ab, sich selbst und alles was ihm lieb und teuer ist zu zerstören. Er sprengt große Reden und Vorträge noch galant mit herrlich deftigen Einwürfen, ist gefürchtet und fürchtet sich selbst. Einzig Freund Notto Fipp hält den guten Doktor davon ab, vollends an sich zu verzweifeln. Notto hat nur einen großen Tick: das Gehen. Um weniger denken zu müssen, durchquert er das Land zu Fuß, immer und immer wieder. Bernhardt Hval macht sich zur Aufgabe, den abgerissenen, mittellosen Geher unter seine Fittiche zu nehmen...
Nicht immer ganz stubenrein ist diese verrückte Geschichte über menschliche Marotten, Freundschaft, Leidenschaft und talentierte Versager. 1927 hat man kaum anders geflucht als heute - etwas verhaltener vielleicht. Trotzdem: dieses Buch ist ein sprachliches Feuerwerk und endlich wieder ein würdiger Nachfolger des Halbbruders. Lesen !


Polen ist nicht Castrop-Rauxel

Joanna Bator: "Sandberg" (Suhrkamp) | 20.8.2012

Sandberg ist eine herruntergekommene Plattenbausiedlung, am Rande einer westpolnischen Kleinstadt. Suff, Zigaretten und die Träume von einem besseren Leben und einem Schwiegersohn aus Castrop-Rauxel beherrschen den tristen Alltag der Frauen und Männer. Die wilde Dominika, die sich eher zu "schwulendingsbums" Freunden und griechischen Migranten hingezogen fühlt, kappt die vertrauten Taue der spießigen Lebensmodelle aus Kitsch und Konsum. Auf der Suche nach einer anderen, besseren Welt im 21. Jahrhundert, kommt sie nicht nur bei sich an, sondern auch dem Geheimnis der Großmutter auf die Spur. Anrührend und kraftvoll zugleich wird in wunderbar deftiger Sprache, die Kriegs- und Nachkriegsgeschichte Polens erzählt. Eine Familiensaga über den Verlust von Heimat, über Flucht und Vertreibung, die Schwierigkeit in der Fremde Fuß zu fassen. Traurig und zum Brüllen komisch zugleich. Wenn das eine Auge weint, lacht das andere bereits wieder. Dazu trägt mit Sicherheit auch Esther Kinskys grandiose Übersetzung und ihre wunderbaren Wortschöpfungen bei! Was für ein großes, großes Buch - was für ein Schatz! Lesen!


Bevor der Sommer vorbei ist

Roy Jacobsen: "Der Sommer, in dem Linda schwimmen lernte" (Insel Taschenbuch) | 6.8.2012

Der zehnjährige Sonderling Finn, Kind einer alleinerziehenden Mutter, wird eines Tages unversehens mit seiner Halbschwester Linda konfrontiert. Linda ist sechs Jahre alt, weiß nicht, was Geschenke zu Weihnachten sind, behält ihre Gedanken lieber für sich und spaltet die eingeschworene Gemeinschaft von Mutter und Sohn. In einer Arbeitersiedlung Oslos der sechziger Jahre, versucht der skurrile Junge seine Schwester auf Vordermann zu bringen. Nach und nach erweist sich das kleine, dickköpfige Mädchen als emotionaler Sprengstoff. Ein Besuch im Krankenhaus erklärt die Lethargie der Kleinen und nach anstrengendem Medikamentenentzug kommt Linda mehr und mehr in Fahrt. Ein Sommerurlaub auf einem illegalen Campingplatz, an einem abgelegenen See, lässt die Kinder geschwisterlich zusammenwachsen. Doch auch dieses vorsichtige, neue Familienglück ist nicht von langer Dauer... Wer kuriose Familiengeschichten mag, ist hier goldrichtig! Ein wunderbares Buch über die Dinge des Lebens, die nicht immer so sind, wie sie sein sollten und sich gerne anders zeigen als sie sind. Ein hinreißendes Buch über wachsen und erwachsen werden, über Liebe und Vertrauen, über Mut und Willensstärke. Ein Buch über die grandiose Kunst des Scheiterns und über unkonventionelle Lebensformen. Und herrlich norwegisch noch dazu! Lesen! 


Ran an die Buletten!

Maris Putnins: "Die wilden Piroggenpiraten" (Fischer Schatzinsel), David Mitchell: "Die Tausend Herbste des Jacob de Zoet" (Rowohlt Verlag) | 2.7.2012

Maris Putnins: "Die wilden Piroggenpiraten" (Fischer Schatzinsel)

Wer wissen will, wie zickige Mohnschnecken aus den Fängen gefüllter Piroggen gerettet werden oder brave Eclairs zu tapferen Seerittern mutieren, der sollte sich und der Familie, dieses herrlich verrückte Buch nicht vorenthalten. Tollkühne Abenteuer aus dem Reich der "Kulinarien". Während ein nichtsnutziges Angeberhörnchen im Kerker schmachtet und die süße Mohnschnecke mit den Piraten die Meere unsicher macht, tönt über allem der Schlachtruft: "Macht sie zu Semmelbröseln!" Da krachts in den Wanden, schäumts auf den Wellen und so manche Füllung geht über Bord... Auf dieses Ferienbuch hat die Welt gewartet!

Lesen!

Aber Obacht: hier werden Gelüste geweckt! Kuchen, Hefestückchen,Speckknödel und allerlei Süßes und Deftiges lässt uns das Wasser im Mund zusammenlaufen und den Magen knurren. Also nix für Diätfetischisten!

David Mitchell: "Die Tausend Herbste des Jacob de Zoet" (Rowohlt Verlag)

Wer schon zu groß für dieses wunderbare Buch sein will, muss noch ein bisschen auf den neuen David Mitchell warten.

Mit "Die Tausend Herbste des Jacob de Zoet" geht's dann ab nach Dejima, einem oder dem einzigen Handelsposten des hermetisch abgeriegelten Japan. Ende des 18ten Jahrhunderts kommt ein junger, holländischer Kaufmann nach Japan, legt in Nagasaki an und versucht auf der Insel Dejima mit allerhand zwielichtigen Gestalten sein Glück.

Durch die unerhörte Liebe zu einer Japanerin, gerät Jacob auf Abwege und in höchste Gefahr. Damals wie heute gibt es beim Zusammenprall unterschiedlicher Kulturen Mord, Intrige und Verrat. Ein Abenteuerroman, gleichermaßen japanisch und flämisch koloriert. Ein Epos über Menschen und Menschlichkeit, Sprache und Kulturen und über eine Welt, die so fremd und schön daherkommt, dass man sich nur schwer, nach über 700 Seiten, wieder losreißen kann...


Apocalypse Now!

T.C.Boyle: "Wenn das Schlachten vorbei ist" (Hanser Verlag) | 22.5.2012

Was ist mehr Tier? Eine Ratte oder ein glückliches Wildschwein? Ein Adler oder eine Schlange? Wieweit dürfen Menschen gehen, um Tiere zu schützen, Vegetarismus durchzusetzen und die Welt zu retten? Wie lange können die natürlichen Ressourcen der Erde noch geschröpft werden?
Radikale Umweltschützer gegen radikale Umweltschützer. Alle wollen das Gleiche, aus unterschiedlichen Gründen, mit unterschiedlichen Methoden...
Das ist mal ein interessanter Ansatz. Die Guten versus die Guten.
Auf welche Seite soll man sich da als Leser schlagen - schwere Aufgabe.
Großes Kino aber allemal. Krass und absolut eindeutig - keine Aussicht auf ein "schönes Leben noch". Und die Erkenntnis, dass auch männliche Autoren, die in die Jahre gekommen sind, nicht zwingend über Impotenz, sexuelle Phantasien mit viel zu jungen Frauen und Prostatatbeschwerden schwadronieren müssen, ist sehr beruhigend.

Lesen!


Im Himmel und auf Erden

Steve Earle: "I'll Never Get Out Of This World Alive" (Blessing Verlag) | 17.4.2012

Was macht ein toter Country Musiker, dem die ewige Ruhe auf die Nerven geht?
Er erscheint dem Arzt und Kumpel, der nicht ganz unschuldig an seinem Ableben ist, als Geist. Doc, der längst Praxis und Approbation verloren hat, kümmert sich, in einem Kaff in Texas, um alles was arm und am Arsch ist. Nutten, Zuhälter Kleinkriminelle mit Schusswunden, Abtreibungen. Längst selbst heroinsüchtig, verdient er sich mit einer "Praxis vom Tisch" die tägliche Dröhnung. Mr-super-schlecht-gelaunt- Geist Hank Williams, hockt stehts im Hintergrund und nörgelt, predigt, meckert, singt und philosophiert aus dem Jenseits, dass die Schwarte kracht. Alles geht hübsch geordnet den Bach runter und man lebt nach dem Motto: Schlimmer geht immer. Bis eines Tages Graciela, Mexikanerin und noch halbes Kind, eine gefährliche Abtreibung überlebt, sich dem guten alten Doc aufdrängt und als Helferin seine illegalen Dienste begleitet. Dieses junge Ding erweist sich bald als Heilige, die mit Handauflegen und beten die Abtrünnigen von San Antonio, auf den rechten Pfad zurückführt. Das passt Einem allerdings gar nicht! Der Countrygeist zieht nochmal alle Register des Bösen und Verwerflichen. Doch irgendwann ist für den alten Kotzbrocken dann auch wirklich zappenduster!
Was für ein Spaß!
Leute, lest dieses Buch und kramt in euren Vinylbeständen nach alten Hank Williams Platten!
Dass dieser Kerl seine eigenen Textzeilen zu früh, zu wörtlich genommen hat, ist wirklich ein Jammer!
Und wer Lust hat, schiebt gleich in den nächsten Plattenladen und hört mal in "Guitar Town" von Steve Earle rein. Es lohnt sich!


Treffen sich zwei

Milena Michiko Flasar: "Ich nannte ihn Krawatte" (Verlag Wagenbach) | 27.3.2012

Ein junger Mann, der sich nach langer Zeit, das erste Mal wieder aus seinem Zimmer wagt - ein Hikikomori.
Ein alter Mann, dem seine Arbeit abhanden gekommen ist und der trotzdem jeden Morgen pünktlich das Haus verlässt, um ins Büro zu gehen - ein Salaryman.
Zwei Außenseiter, die sich über Tage und Wochen auf einer Parbank in Japan ihr Leben erzählen. Geschichten über das Scheitern. Über den Druck der Gesellschaft und über die Kraft der Verweigerung.
Eine Geschichte über Freundschaft, Abschied und Anfang und über alles, was das Leben ausmacht.
Was für ein wunderbares Buch!
Lesen!


Showdown an der Außenalster!

Frank Schulz: "Onno Viets und der Irre vom Kiez" (Galiani Berlin) | 21.2.2012

Was macht ein gewiefter Altersversager, Berufsverweigerer und Dauerpleitegeier, wenn sein geliebtes Dickerchen 50 wird und unbedingt ein neues Fahrrad braucht?
Er zieht die Kumpels beim Tischtennis ab und wird Pivatdetektiv!
Noppensockenträger Onno Viets, Mitte 50, Hartz-IV-Empfänger und bekennender Nicht-Schwitzer hat seinen ersten Fall.
Ein zwielichtiger Großunternehmer wähnt seine Liebschaft auf Abwegen und will Beweise. Die muß Onno zwischen Hamburg und Mallorca erbringen.
Dumm nur, dass das Popmäuschen ausgerechnet mit Kiez-Gorilla "Händchen", 2 Meter groß und 130 Kilo pure Muskelmasse, angebändelt hat...
Wer das nicht liest ist selber Schuld und verpasst Frank Schulzes Sprachakrobatik vom Feinsten.
Endlich hat der Herr und Meister der deutschen Literatur, nach dem Ouzu-Orakel, wieder zugeschlagen - und zwar amtlich!
Dieses Buch ist der Hammer!
Lesen!