Brit Bennett. "Die verschwindende Hälfte" (Verlag Rowohlt) | 18.11.2020
Stella und Desiree sind hellhäutige schwarze Zwillinge, die in den 1950er Jahren in der Nähe von Louisiana geboren werden. In einem Kaff, dass selbst die letzte Lynchjustiz erlebt hat, die Schwarzen immer weißer werden und sich erstaunlicherweise gegen "schwarze Schwarze" verschwören. Man will unter sich bleiben und duldet keine neuen Nachbarn, die nicht die richtige Hautfarbe haben. Die Mädchen erkennen schnell, dass ihre Zukunft auf keinen Fall in "Mallard" liegt und verschwinden bei Nacht und Nebel aus dem kleinbürgerlichen Niemandsland. Untergetaucht in New Orleans trennen sich bald die Wege der Schwestern. Während Desiree einen schwarzen Erzeuger für Ihre Tochter Jude auswählt, nutzt Stella ihre Chance als "weiße" Sekretärin ihren Chef zu heiraten und die Tür hinter ihrer wahren Herkunft und ihrer Schwester, für immer zuzuschlagen. Während sie ihr Leben und das ihrer Tochter Kennedy in der Welt der Weißen auf einer Lüge aufbaut, gehen Desiree und Jude zurück nach "Mallard". Jude und Kennedy lernen sich auf ihrer wilden Suche nach Idendität und neuer Heimat kennen. Nicht ahnend,dass sie miteinander verwandt sind, freunden sich die beiden unterschiedlichen jungen Frauen für kurze Zeit an und kommen einem gefährlichen Familiengeheimnis auf die Spur. Mit von der Partie sind Brian, der sich zwei mal die Woche als Frau verkleidet und Rees, der Jude mehr liebt als sein Leben aber eigentlich eine Frau ist...Was ist Heimat und was Familie? Wer bin ich? Wer will ich sein und welchen Preis bin ich bereit dafür zu zahlen?
Tolles Buch! Richtig gute Unterhaltung mit allem was dazu gehört! Ich liebe es!
Lesen!
Unbedingt lesen!
Louis-Karl Picard-Sioui. "Der große Absturz" Stories aus Kitchike (Secession) | 27.10.2020
Wer Tommy Orange " Dort Dort" gerne gelesen hat, sollte sich unbedingt der Kehrseite der indigenen Bevölkerung widmen. Hier sind die "Indianer" noch im Reservat zu Hause und doch auch auf dem Absprung. Pflegen Ihre Traditionen und treten sie gleichermaßen mit Füßen. "Zieh Federn an und Fransen, das ist Pflicht (...) Und dem Cashflow schadet's nicht"! Im Reservat funktioniert alles genau so, wie in jeder anderen beschissenen Kleinstadt Québecs. Arbeitslosigkeit, Langeweile, Drogen, Alkohol, Korruption.
Alle haben die Schnauze voll von ihrer eigenen Mittelmäßigkeit, jeder hat Träume und große Ziele. Dafür müsste man nur mal eben den Arsch hochkriegen.
Dem Reservatschef geht selbiger auf Grundeis. Kurz vorm großen Absturz merkt er, dass er sich mit den falschen Leuten eingelassen hat. Doch wie den Karren jetzt noch rumreißen und Verbündete finden? Wo steht die nächste Zeitmaschine und warum ist der Medizinmann eigentlich nie da, wenn man ihn braucht...
Gleichzeitig wahr und völlig absurd. Mal witzig und traurig, höchst poetisch und zutiefst brutal. Und immer mit einem lakonisch kolonialen, politischen Subtext kommen diese kurzen Geschichten daher. Erstmal völlig unabhängig voneinander. Am Ende fügt sich ein Schnipsel an den anderen und ergibt ein Bild der Auferstehung durch Selbstzerstörung. Ein Phönix aus der Asche!
Krass! Großartig!
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Unbedingt lesen!
Helen Weinzweig:"Von Hand zu Hand" (Verlag Wagenbach) | 23.10.2020
Die Geschichte ist schnell erzählt: zwei Menschen legen sich die "Fesseln der Ehe an" um endlich frei zu sein. Scheinbar völlig ohne roten Faden, gleich einer "Loseblattsammlung" wird von einer Hochzeit der Upper Class Torontos erzählt. Jeder einzelne geladene (und ungeladene!) Gast hinterlässt eine Giftspur nur um gleichzeitig selbst demontiert zu werden. Es wird gebissen und gekratzt, gespuckt und verflucht - alles unter dem Deckmantel der Höflichkeit. Das Brautpaar: ein homosexueller Mann und eine promiskuitive Frau. Beide verlassen, verraten, verbrämt - in Ungnade gefallen. Die Hochzeitsgäste: gedemütigt, wütend, gemein und gehässig. Alte Wunden reißen auf, alle hatten irgendwie miteinander zu tun und sich gegenseitig das Leben schwer gemacht. Das Brautpaar muss einmal durch die Hölle und wieder zurück um sich am Ende gegenseitig die Absolution zu erteilen.
Während die Meute hetzt, den frisch Vermählten das Hochzeitszimmer abhanden kommt und die Kälte sie zwingt einander ganz nah zu sein, gibt es auf die Frage: Bereit? nur eine Antwort:Bereit!
Wie großartig diese Autorin die Gesellschaft im Allgemeinen und die Menschen im Besonderen unter die Lupe nimmt! Es macht diebischen Spaß diesen literarischen Sprenkeln, menschlichen Versagens zu folgen. Wie schön wir uns doch alle selbst belügen. Augen zu und durch! Und wenn es schief geht, sind es immer die anderen, die Schuld haben.
Liebe allein ist einfach nicht genug!
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Unbedingt lesen!
Giulia Caminito:"Ein Tag wird kommen" (Verlag Wagenbach) | 21.10.2020
Italien kurz vorm Ersten Weltkrieg. Ein Dorf in den Marken, w
o niemand nichts gehört. Die Bauern nur das haben, was der König Ihnen übrig lässt. Die Winter sind bitterkalt, die Sommer heiß und nur wer zäh genug ist, Hitze, Kälte und Krankheit zu wiederstehen, kann sich und seine Familie am Leben erhalten. Kinder sterben wie die Fliegen, die Arbeit auf dem Feld ist kaum zu bewältigen, während die Familie Ceresa die letzte Tocher ins Kloster gibt und Sohn Lupo an die Anarchisten verliert. Der zarte Nicola vermag kaum eine Sense zu halten, geschweige denn sie zu führen und muss dennoch als "letztes Kanonenfutter" die Schützengräben erleben. Während der Krieg am Ende seine Versehrten ausspuckt, die Revolution ihre Kinder frisst und die spanische Grippe in den Dörfern wütet, stirbt ein Wolf und ein anderes wildes Tier schärft seine Krallen. Noch ist Mussolini unbedeutend und am Anfang seiner Laufbahn. Die Bauern, die sich durch Streik und Aufstand etwas Freiheit erobert haben, steuern direkt auf das nächste Joch zu. Karg und freudlos erlebt die Familie Ceresa ihren Untergang. Träume vom besseren Leben enden in Schweiß und Blut. Zwei ungleiche Brüder, eine infame Lüge und die Niedertracht der Kirche bestimmen das Schicksal der Familie. "Ihre Körper waren dazu da, verletzt zu werden." Und doch reicht die Hoffnung am Ende denen die Hand, die bereit sind an sie zu glauben.
Schwer und dunkel aber nicht ohne Schönheit wird hier von einer Zeit erzählt, die das Leben in seinen Grundfesten erschüttert. Und zeigt, wie sehr der Mensch am Leben hängt...
Tolles Buch!
Unbedingt lesen!
Christine Wunnicke:"Die Dame mit der bemalten Hand" (Berenberg Verlag) | 12.10.2020
Die Kassiopeia, fast immer zu sehen und bestehend aus vielen anderen Leuchtpunkten, ist eines der wenigen Sternbilder, die jeder kennt. Wie der Name entstanden ist und wie schwer es ist den Himmel zu vermessen und die Erde noch gleich mit dazu, liest sich wie ein Fiebertraum aus einer anderen Welt.
Und das ist es vielleicht auch?! Doch zu gerne möchte man glauben, dass Carsten Niebuhr, ein Mathematiker aus dem Bremischen und der Astronom Musa al-Lahuri aus Persien, auf einer unwirtlichen Insel kurz vor Bombay im Jahr 1764, ihre Lehren teilen. Da wird hitzig über die Wissenschaft im Allgemeinen und die Sternbilder im Besonderen diskutiert, der Nachthimmel akribisch auseinandergenommen und wo der eine nur die bemalte Hand sieht, schaut der andere gleich die ganze Dame. Um sich die Zeit bis zur Rettung zu vertreiben, erzählen (und erfinden) beide Männer Geschichten von ihren jeweiligen Reisen, aus ihrer Heimat und von ihren Familien, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Während der Bremer im Fieber liegt und der Scheich fieberhaft fabuliert, erfahren wir auf höchst spannende Art und Weise eine illustre Geschichte der Wissenschaft und Lebenskunde aus einer längst vergangenen Zeit.
Was für ein Buch!
So klug, mit viel Situationskomik und großer Eleganz geschrieben. Ein sprachliches Feuerwerk und auf der shortlist des deutschen Buchpreises genau richtig. Könnte alle anderen auf die Plätze verweisen....
Lesen!
Unbedingt lesen!
Charlotte McConaghy: "Zugvögel" (S. Fischer) | 5.10.2020
Franny kann nirgendwo lange bleiben, ist immer unterwegs, muss ständig in Bewegung sein. Verlässt die denen sie am Herzen liegt, um ihrer einzigen Liebe, dem Meer und den Küstenseeschwalben zu folgen. Als die Vögel zu verschwinden beginnen, beschließt die Ornithologin mit einem der letzten Fischerboote auf eine gefährliche Expedition zu gehen. Die zusammengewürfelte Crew ist schwierig, nicht gerade auf Frannys Seite und fürchtet die unwegsame Arktis. Während Franny mit den Tücken des Schiffes kämpft, sich als vollwertiges Mitglied der Mannschaft zu etablieren versucht, lässt der Atlantik seine Muskeln spielen und Franny langsam mit der Crew zusammenwachsen. Die Vögel sind Kompass und Versprechen zugleich, dem Meer längst leer gefischt, einen letzten großen Fang abzutrotzen. So wie jeder der außergewöhnlichen Seeleute seine Leiche im Keller hat, kommt auch Franny nicht umhin, sich ihrer Vergangenheit und ihren Abgründen zu stellen...
Gute Anschlussliteratur an den "Gesang der Flusskrebse". Etwas wilder, etwas mehr Abenteuer und etwas weniger romantisch.
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Tonio Schachinger: "Nicht wie Ihr" (Rowohlt Taschenbuch) | 1.10.2020
"Oider"! Das is ja mal ein Debüt! Egal ob man fußballaffin ist oder nicht: Starkicker Ivo versenkt seine Geschichte genau zwischen die Herzpfosten. Ist talentiert, sexy, cool - und sehr von sich überzeugt. Ivo hat alles, was ein Mann sich wünschen kann. Ein schnelles Auto, eine Frau die sein Leben managt, zwei reizende Kinder, Haus mit Pool - und doch...
Als seine große Liebe Mirna wieder auftaucht wird Ivo plötzlich klar, dass sein Leben im Fußballkäfig eine einzige Farce ist. Zwischen Training, Spielen, Spielersitzungen, weiteren Spielen und noch mehr Training, fragt Ivo sich wo eigentlich das Leben stattfindet. Und beschließt endlich loszulegen...
Auch hier geht's am Ende nur um das, was wirklich zählt und für kein Geld der Welt zu kaufen ist: die Liebe.
Mit göttlichen Fußballtermini gespickt, viel Wiener Schmäh und deftigen Dialogen, hat dieser Roman alles was man für eine vergnügliche Lesezeit braucht.
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Unbedingt lesen!
Sebastian Barry: "Tausend Monde" (Verlag Steidl) | 30.9.2020
Tennessee, 1873. Nach dem verlorenen Bürgerkrieg haben Thomas McNulty, John Cole und das Lakota-Mädchen Winona endlich als Familie auf der Farm von Lige Magan ein Zuhause gefunden. Doch das Glück währt nicht lange. Die Banken sind pleite, das Land ist tief gespalten, hungert und gibt die Schuld den eingewanderten Iren, gescheiterten Unionssoldaten und allen übrig gebliebenen Ethnien. Im Streit um die Aufhebung der Sklaverei, wird mehr gelyncht, gefoltert und getötet denn je. Der Ku-Klux-Klan wittert seine Chance, zieht mordend und plündernd durchs Land und macht selbst vor Weißen nicht halt. Winona, fast erwachsen, klug und gut gebildet wird von einem weißen Nachbarsjungen umworben. Eine Lawine der Ablehnung, des Hasses und brutaler Übergriffe wird losgetreten, die alle Mitglieder der Farm in größte Gefahr bringt.
Wie in "Tage ohne Ende" wird die Geschichte der Depression während und nach dem amerikanischen Bürgerkrieg erzählt. Eine Geschichte über Rassismus und politische Fehlentscheidungen. Über blindes Vertrauen und wahre Freundschaft. Über Hass, Rache und am Ende auch über Liebe und die Fähigkeit einander zu vergeben.
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Unbedingt lesen.
Charles Lewinsky: "Der Halbbart" (Diogenes Verlag) | 25.9.2020
Ein "Grenzkonflikt" zwischen Pest und Hexenverbrennung.
So wie der Sebi nicht aufs Feld gehört, in keine Soldatenuniform passen will und schon gar nix im Kloster verloren hat, ist der Halbart für alles, was Mühe, Arbeit und Verdruss macht wie geschaffen. Ein geflohener Jude, einer der "ins Feuer gehört" und grad noch mit dem Leben davongekommen ist.
Im Gesicht halb verbrannt und die andere Hälfte mit wildem Bart versehen, findet der Einsiedler in der Nähe eines kleinen schwyzer Dorfes Zuflucht.Weil dem Halbbart die Worte fehlen, zu grausam war das Progrom, dem er zum Opfer fiel, erschafft der kleine Eusebius ihm kurzerhand einen Lebenslauf. Manchmal muss man Geschichten erfinden, umdenken oder neu zusammensetzen. Und wenn die Geschichten dann richtig gut sind, erschaffen sie eine Wirklichkeit - können trösten, Hunger stillen und sogar Leben retten. Im Mittelalter geht man nicht zimperlich miteinander um. Kirchliche und weltliche Obrigkeiten führen ein hartes Regiment.
Da wird gemordet und gemeuchelt, verbrannt, "geviertelt und geteilt", dass es einem die Schuhe auszieht. Und nachdem die Söldner aus den Kriegen in Italien zurückkehren, hat selbst im Dorf, wo alle versuchen friedlich miteinander auszukommen, keiner mehr was zu lachen. Dabei wollen alle eigentlich nur den habsburger Machtansprüchen den garaus machen. So ersinnen Sepi und der Halbbart eine kluge List, die die auf Krawall gebürsteten Soldaten beruhigt und den Habsburgern eine vernichtende Niederlage beschert.
Ein Hochgenuss! Äußerst sprachgewaltig wird hier fabuliert und ganz nebenbei lernt man noch so einiges über die historische Schlacht von Morgarten. Mit den wachen Augen eines einfachen Kindes, das weit über den Rand seines Dorfes blickt, schaut man auf eine Geschichte die sich vielleicht so zugetragen hat - vielleicht aber auch nicht...
Schade, dass sich der Halbbart nicht auf der Shortlist positionieren konnte. Hat mehr Zeug dazu als Hettches "Herzfaden". Würde ich sagen! Aber mich fragt ja mal wieder kein Schwein.
Wir sollten unsere Smartphones, Computer und Fernseher einfach aus dem Fenster schmeißen und uns aufs Geschichten erzählen verlegen. Könnte helfen!
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Unbedingt lesen!
Ben Lerner: "Die Topeka Schule" (Verlag Surkamp) | 22.9.2020
Während Adam sich auf seinen High School Abschluss vorbereitet, scheitert das "Debattier Wunder" an sich selbst und der Orientierungslosigkeit einer ganzen Generation weißer, priviligierter amerikanischer Jungs. Die Sprache als Vehikel gedacht funktioniert nicht mehr. Vater Jonathan, ausgewiesener Experte im analytischen Umgang mit "verlorenen Mann-Kindern" erkennt die verzweifelte Sprachlosigkeit des eigenen Sohnes nicht oder viel zu spät.
Jane, Adams Mutter, eine berühmte feministische Autorin weiß, wie Sprache zum gefährlichen Schweigen werden kann oder einem die Worte im Mund verdreht werden. Und Darren, psychisch labil, in einer permanenten Opferrolle, Patient von Jonathan und das reinste Pulverfass, hat viele Worte, die keiner hören will. Was sagen wir, wenn wir etwas sagen? Was meinen wir und was versteht das Gegenüber? Wer bestimmt, was, wo gesagt werden darf?
In Topeka, am Arsch der Welt, herscht Ordnung, solange alle die gleiche Meinung haben, Frauenfeindlichkeit und Homophobie ausgeblendet werden und religiöse Fanatiker politische Bildung vermitteln dürfen. Und wehe, da kommt eine und sagt, wie es auch anders und sogar besser gehen könnte...
Um die Jahrtausendwende versucht eine dysfunktionale Familie sich zu retten, während das ganze Land auf ein großes Desaster zusteuert. Nicht ohne Witz und mit viel Situationskomik lesen wir uns in die Ära Trump ein, ohne es zu merken. Warum und wieso dieser Verrückte und seine Vasallen soweit kommen konnten, fällt einem (nochmal und immer wieder) wie Schuppen von den Augen. Und die alte Weisheit, "dass "nichts so schlecht, dass es nicht für irgend etwas gut ist" hilft da auch nicht wirklich weiter.
Was für ein Buch!
Brilliant! Unglaublich! Für mich der "beste Lerner" und neues Lieblingslieblingslieblingsbuch!
So klug! So witzig! So scharfsinnig!
Hammer!
Lesen!
Unbeding Lesen! (Das ist ein Befehl!)