"Call of Wizardry"

Matt Ruff: "88 Namen" (Fischer / Tor) | 6.1.2021
Willkommen im Gefälle und Gehäcksel einer modernen Gesellschaft. In der  Hohen Zeit der virtuellen Welten verdienen drei Freelancer ihr Geld, indem sie sich täglich, stündlich und in mehreren Schichten abschlachten lassen bzw. ihre Gegner vernichten - wenns gut läuft. In einem lukrativen Online-Rollenspiel das Erfahrung, Geschick und viel Fingerspitzengefühl verlangt, stellen die "Drei Musketiere" ihre Avatare zur Verfügung und häufen schnell und im gegenseitigen Wettbewerb viel Geek-Gold an.
Um Siege zu feiern, sich zu besaufen, Sex zu haben, neue Strategien zu entwickeln oder einfach mal gemeinsam zu chillen, treffen sich die Avatare der Avatare in Chatbars-clubs oder -schlafzimmern...Und es hat lange gedauert bis ich kapiert habe, dass wirklich alles und alle virtuell und nichts und niemand echt ist!
 Als das Spiel in die reale Welt einbricht, ein ominöser und stinkreicher "Mr Jones"  der nord-koreanische Diktator KIm Jong-un sein könnte und plötzlich Waffenhandel und Geldwäsche auf der Agenda der Spieler stehen, ist Schluss mit lustig für John Chu und seine Gefährten. Es geht um Leben und Tod.
Aus den taffen Kämpfer*innen werden Richard Kimbles auf der Flucht., die sich allesamt mit den falschen Leuten eingelassen haben. Kein Ort ist sicher und das Ministerium für Internetkriminalität ist ihnen ebenfalls schon längst auf den Fersen...
Wow! Super spannend! Super cool! Super witzig!
Ich hab ziemlich viel krudes Zeug gelernt! Hat Spaß gemacht!
Lesen!
Unbedingt lesen!

Was wäre wenn...

Laurent Binet:" Eroberung" (Rowohlt Verlag) | 5.1.2021
Was wäre wenn Kolumbus gestorben und nicht mehr nach Europa hätte zurückkommen können? König Karl V in Portugal gestrandet, Erasmus von Rotterdam andere Briefe an Thomas Morus verfasst hätte und die Wikinger bis nach Südamerika gesegelt wären?
Dann hätten die Inka Europa erobert!
So jedenfalls erzählt uns Binet, im Herzen wohl einer der größten Conqistadoren,
die Geschichte der Entdeckung Amerikas bzw. Europas.
Angefangen mit einer aufsässigen, wild gewordenen Grönlandbraut, die sich ein Schiff des Bruders uner den Nagel reißt und mit ihren starken Männern bis nach Südamerika gelangt. Mit ihr, man lese und staune: ein Virus. Das erhebt, durch weise Orakelei, die Wikingerin zur Königin, lässt aber jede Bevölkerungsgruppe so dezemiert zurück, dass die Menschheit gezwungen wird sich neu zu vereinen und ordentlich zu vermischen.
Nach großartigen Kämpfen, blutigen Schlachten (da rollen die Köpfe) und diversen Machtspielchen, wird die Inquisition verbannt, die "95 Thesen der Sonne" an Wittenbergs Türen gehauen und die Häupter der Europäer mit Federschmuck, statt Hüten verziert.
Eine großartige Alternative zur klassischen Weltgechichte. Schelmenroman trifft auf Lederstrumpf und gemeinsam begegnen sie Simplicissimus Teutsch. Von Francisco Pizarro über Cervantes und Montaigne läuft alles auf, was Rang und Namen hat.
Das ist klug! Das sprüht vor Witz und Einfallsreichtum! Das ist ganz großes Kino!
Lesen!
Unbedingt lesen!

Dauernd Sex is auch keine Lösung!

Daniela Krien: "Die Liebe im Ernstfall" (Diogenes) | 30.11.2020

Als Jorinde sich ihren "Joringel" geangelt hat, bekommt das Leben wieder einen echten Sinn. Alles ist gut, die Herzen schlagen im gleichen Takt, die große Liebe zeigt sich lange von ihrer besten Seite. Blöd nur, dass der Mann dauernd Sex will und die Frau eher nicht. Schwanger werden und somit endlich "eine Ruh" vorm Bettsport haben, stellt sich dummerweise nicht ein. Der Mann fühlt sich nicht geliebt und unverstanden, findet eine neue große Liebe. Mit der es am Ende ähnliche und andere  Probleme gibt...Paula, Brida, Jorinde, Malika und Judith - egal ob Musikerin, Schauspielerin, Buchhändlerin, Autorin oder Mutter: alle  stolpern sie über ihrer eigenen Füße, wollen gefallen. Den Eltern, den Männern, den Kollegen, den Freunden. Gehen hart mit sich ins Gericht.
Und das ist so anstrengend!
Am Ende tun sich die zusammen, die schon lange nichts mehr voneinander wissen wollten. Und es funktioniert! Die alleine bleiben, kommen irgendwann zu sich selbst und der Erkenntnis, dass ein Leben ohne Fremdbestimmung gar nicht so schlecht ist. Alles hat seinen Preis und jedes Ding zwei Seiten. Wohl dem, der sich auf seinen eigenen Kompass verlassen kann. Der muss nur richtig eingestellt werden und dann ist das mit dem glücklich sein gar nicht so schwer.
Und ja, das Leben ist eines der härtesten und manchmal ziemlich fies. Aber wenn man nicht alles so bierernst nimmt und das ganze Ding etwas sportlicher sieht, macht es mitunter richtig Spaß!
Lesen!
Unbedingt lesen!

 


Zwei Farben schwarz

Brit Bennett. "Die verschwindende Hälfte" (Verlag Rowohlt) | 18.11.2020
Stella und Desiree sind hellhäutige schwarze Zwillinge, die in den 1950er Jahren in der Nähe von Louisiana geboren werden. In einem Kaff, dass selbst  die letzte Lynchjustiz erlebt hat, die Schwarzen immer weißer werden und sich erstaunlicherweise  gegen "schwarze Schwarze" verschwören. Man will unter sich bleiben und duldet keine neuen Nachbarn, die nicht die richtige Hautfarbe haben. Die Mädchen erkennen schnell, dass ihre Zukunft auf keinen Fall in "Mallard" liegt und verschwinden bei Nacht und Nebel aus dem kleinbürgerlichen Niemandsland. Untergetaucht in New Orleans trennen sich bald die Wege der Schwestern. Während Desiree einen schwarzen Erzeuger für Ihre Tochter Jude auswählt, nutzt Stella ihre Chance als "weiße" Sekretärin ihren Chef zu heiraten und die Tür hinter ihrer wahren Herkunft und ihrer Schwester, für immer zuzuschlagen. Während sie ihr Leben und das ihrer Tochter Kennedy in der Welt der Weißen auf einer Lüge aufbaut, gehen Desiree und Jude zurück nach "Mallard". Jude und Kennedy  lernen sich auf ihrer wilden Suche nach Idendität und neuer Heimat kennen. Nicht ahnend,dass sie miteinander verwandt sind, freunden sich die beiden unterschiedlichen jungen Frauen für kurze Zeit an und kommen einem gefährlichen Familiengeheimnis auf die Spur. Mit von der Partie sind Brian, der sich zwei mal die Woche als Frau verkleidet und Rees, der Jude  mehr liebt als sein Leben aber eigentlich eine Frau ist...Was ist Heimat und was Familie? Wer bin ich? Wer will ich sein und welchen Preis bin ich bereit dafür zu zahlen?
Tolles Buch! Richtig gute Unterhaltung mit allem was dazu gehört! Ich liebe es!
Lesen!
Unbedingt lesen!

Zwischen Zombies und Federschmuck

Louis-Karl Picard-Sioui. "Der große Absturz" Stories aus Kitchike (Secession) | 27.10.2020

Wer Tommy Orange " Dort Dort" gerne gelesen hat, sollte sich unbedingt der Kehrseite der indigenen Bevölkerung widmen. Hier sind die "Indianer" noch im Reservat zu Hause und doch auch auf dem Absprung. Pflegen Ihre Traditionen und treten sie gleichermaßen mit Füßen. "Zieh Federn an und Fransen, das ist Pflicht (...) Und dem Cashflow schadet's nicht"! Im Reservat funktioniert alles genau so, wie in jeder anderen beschissenen Kleinstadt Québecs. Arbeitslosigkeit,  Langeweile, Drogen, Alkohol, Korruption.
Alle haben die Schnauze voll von ihrer eigenen Mittelmäßigkeit, jeder hat Träume und große Ziele. Dafür müsste man nur mal eben den Arsch hochkriegen.
Dem Reservatschef geht selbiger auf Grundeis.  Kurz vorm großen Absturz merkt er, dass er sich mit den falschen Leuten eingelassen hat. Doch wie den Karren jetzt noch rumreißen und Verbündete finden? Wo steht die nächste Zeitmaschine und warum ist der Medizinmann eigentlich nie da, wenn man ihn braucht...
Gleichzeitig wahr und völlig absurd. Mal witzig und traurig, höchst poetisch und zutiefst brutal. Und immer mit einem lakonisch kolonialen, politischen Subtext kommen diese kurzen Geschichten daher. Erstmal völlig unabhängig voneinander. Am Ende fügt sich ein Schnipsel an den anderen und ergibt ein Bild der Auferstehung durch Selbstzerstörung. Ein Phönix aus der Asche!
Krass! Großartig!
Lesen!
Unbedingt lesen!


Der Schwule und das Flittchen

Helen Weinzweig:"Von Hand zu Hand" (Verlag Wagenbach) | 23.10.2020
Die Geschichte ist schnell erzählt: zwei Menschen legen sich die "Fesseln der Ehe an" um endlich frei zu sein. Scheinbar völlig ohne roten Faden, gleich einer "Loseblattsammlung" wird von einer Hochzeit der Upper Class Torontos erzählt. Jeder einzelne geladene (und ungeladene!) Gast hinterlässt eine Giftspur nur um gleichzeitig selbst demontiert zu  werden. Es wird gebissen und gekratzt, gespuckt und verflucht - alles unter dem Deckmantel der Höflichkeit. Das Brautpaar: ein homosexueller Mann und eine promiskuitive Frau. Beide verlassen, verraten, verbrämt - in Ungnade gefallen. Die Hochzeitsgäste: gedemütigt, wütend, gemein und gehässig. Alte Wunden reißen auf, alle hatten irgendwie miteinander zu tun und sich gegenseitig das Leben schwer gemacht. Das Brautpaar muss einmal durch die Hölle und wieder zurück um sich  am Ende gegenseitig die Absolution zu erteilen.
Während die Meute hetzt, den frisch Vermählten das Hochzeitszimmer abhanden kommt und die Kälte sie zwingt einander ganz nah zu sein, gibt es auf die Frage: Bereit? nur eine Antwort:Bereit!
Wie großartig diese Autorin die Gesellschaft im Allgemeinen und die Menschen im Besonderen unter die Lupe nimmt! Es macht diebischen Spaß diesen literarischen Sprenkeln, menschlichen Versagens zu folgen. Wie schön wir uns doch alle selbst belügen. Augen zu und durch! Und wenn es schief geht, sind es immer die anderen, die Schuld haben.
Liebe allein ist einfach nicht genug!
Lesen!
Unbedingt lesen!

Unter Wölfen!

Giulia Caminito:"Ein Tag wird kommen" (Verlag Wagenbach) | 21.10.2020
Italien kurz vorm Ersten Weltkrieg. Ein Dorf in den Marken, wo niemand nichts gehört. Die Bauern nur das haben, was der König Ihnen übrig lässt. Die Winter sind bitterkalt, die Sommer heiß und nur wer zäh genug ist, Hitze, Kälte und Krankheit zu wiederstehen, kann sich und seine Familie am Leben erhalten. Kinder sterben wie die Fliegen, die Arbeit auf dem Feld ist kaum zu bewältigen, während die Familie Ceresa die letzte Tocher ins Kloster gibt und Sohn Lupo an die Anarchisten verliert. Der zarte Nicola vermag kaum eine Sense zu halten, geschweige denn sie zu führen und muss dennoch als "letztes Kanonenfutter" die Schützengräben erleben. Während der Krieg am Ende seine Versehrten ausspuckt, die Revolution ihre Kinder frisst und die spanische Grippe in den Dörfern wütet, stirbt ein Wolf und ein anderes wildes Tier schärft seine Krallen. Noch ist Mussolini unbedeutend und am Anfang seiner Laufbahn. Die Bauern, die sich durch Streik und Aufstand etwas Freiheit erobert haben, steuern direkt auf das nächste Joch zu. Karg und freudlos erlebt die Familie Ceresa ihren Untergang. Träume vom besseren Leben enden in Schweiß und Blut. Zwei ungleiche Brüder, eine infame Lüge und die Niedertracht der Kirche bestimmen das Schicksal der Familie. "Ihre Körper waren dazu da, verletzt zu werden." Und doch reicht die Hoffnung am Ende denen die Hand, die bereit sind an sie zu glauben.
Schwer und dunkel aber nicht ohne Schönheit wird hier von einer Zeit erzählt, die das Leben in seinen Grundfesten erschüttert. Und zeigt, wie sehr der Mensch am Leben hängt...
Tolles Buch!
Unbedingt lesen!
 

Weißt Du wieviel Sternlein stehen...

Christine Wunnicke:"Die Dame mit der bemalten Hand" (Berenberg Verlag) | 12.10.2020
Die Kassiopeia, fast immer zu sehen und bestehend aus vielen anderen Leuchtpunkten, ist eines der wenigen Sternbilder, die jeder kennt. Wie der Name entstanden ist und wie schwer es ist den Himmel zu vermessen und die Erde noch gleich mit dazu, liest sich wie ein Fiebertraum aus einer anderen Welt.
Und das ist es vielleicht auch?! Doch zu gerne möchte man glauben, dass Carsten Niebuhr, ein Mathematiker aus dem Bremischen und der Astronom Musa al-Lahuri aus Persien, auf einer unwirtlichen Insel kurz vor Bombay im Jahr 1764, ihre Lehren teilen. Da wird hitzig über die Wissenschaft im Allgemeinen und die Sternbilder im Besonderen diskutiert, der Nachthimmel  akribisch auseinandergenommen und wo der eine nur die bemalte Hand sieht, schaut der andere gleich die ganze Dame. Um sich die Zeit bis zur Rettung zu vertreiben, erzählen (und erfinden) beide Männer Geschichten von ihren jeweiligen Reisen, aus ihrer Heimat und von ihren Familien, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Während der Bremer im Fieber liegt und der Scheich fieberhaft fabuliert, erfahren wir auf höchst spannende Art und Weise eine illustre Geschichte der Wissenschaft  und Lebenskunde aus einer längst vergangenen Zeit.
Was für ein Buch!
So klug, mit viel Situationskomik und großer Eleganz geschrieben. Ein sprachliches  Feuerwerk und auf der shortlist des deutschen Buchpreises genau richtig. Könnte alle anderen auf die Plätze verweisen....
Lesen!
Unbedingt lesen!

These boots are made for walking.

Charlotte McConaghy: "Zugvögel" (S. Fischer) | 5.10.2020
Franny kann nirgendwo lange bleiben, ist immer unterwegs, muss ständig in Bewegung sein. Verlässt die denen sie am Herzen liegt, um ihrer einzigen Liebe, dem Meer und den Küstenseeschwalben zu folgen. Als die Vögel zu verschwinden beginnen, beschließt die Ornithologin mit einem der letzten Fischerboote auf eine gefährliche Expedition zu gehen. Die zusammengewürfelte Crew ist schwierig, nicht gerade auf Frannys Seite und fürchtet die unwegsame Arktis. Während Franny mit den Tücken des Schiffes kämpft, sich als vollwertiges Mitglied der Mannschaft zu etablieren versucht, lässt der Atlantik seine Muskeln spielen und Franny langsam mit der Crew zusammenwachsen. Die Vögel sind Kompass und Versprechen zugleich, dem Meer längst leer gefischt,  einen letzten großen Fang abzutrotzen. So wie jeder der außergewöhnlichen Seeleute  seine Leiche im Keller hat, kommt auch Franny nicht umhin, sich ihrer Vergangenheit und ihren Abgründen zu stellen...
Gute Anschlussliteratur an den "Gesang der Flusskrebse". Etwas wilder, etwas mehr Abenteuer und etwas weniger romantisch.
Lesen!

Blutgrätsche durchs Nadelöhr.

Tonio Schachinger: "Nicht wie Ihr" (Rowohlt Taschenbuch) | 1.10.2020
"Oider"! Das is ja mal ein Debüt! Egal ob man fußballaffin ist oder nicht: Starkicker Ivo versenkt seine Geschichte genau zwischen die Herzpfosten. Ist talentiert, sexy, cool - und sehr von sich überzeugt. Ivo hat alles, was ein Mann sich wünschen kann. Ein schnelles Auto, eine Frau die sein Leben managt, zwei reizende Kinder, Haus mit Pool - und doch...
Als seine große Liebe Mirna wieder auftaucht wird Ivo plötzlich klar, dass sein Leben im Fußballkäfig eine einzige Farce ist. Zwischen Training, Spielen, Spielersitzungen, weiteren Spielen und noch mehr Training, fragt Ivo sich wo eigentlich das Leben stattfindet. Und beschließt endlich loszulegen...
Auch hier geht's am Ende nur um das, was wirklich zählt und für kein Geld der Welt zu kaufen ist: die Liebe.
Mit göttlichen Fußballtermini gespickt, viel Wiener Schmäh und deftigen Dialogen, hat dieser Roman alles was man für eine vergnügliche Lesezeit braucht.
Lesen!
Unbedingt lesen!