Unter Wölfen!

Giulia Caminito:"Ein Tag wird kommen" (Verlag Wagenbach) | 21.10.2020
Italien kurz vorm Ersten Weltkrieg. Ein Dorf in den Marken, wo niemand nichts gehört. Die Bauern nur das haben, was der König Ihnen übrig lässt. Die Winter sind bitterkalt, die Sommer heiß und nur wer zäh genug ist, Hitze, Kälte und Krankheit zu wiederstehen, kann sich und seine Familie am Leben erhalten. Kinder sterben wie die Fliegen, die Arbeit auf dem Feld ist kaum zu bewältigen, während die Familie Ceresa die letzte Tocher ins Kloster gibt und Sohn Lupo an die Anarchisten verliert. Der zarte Nicola vermag kaum eine Sense zu halten, geschweige denn sie zu führen und muss dennoch als "letztes Kanonenfutter" die Schützengräben erleben. Während der Krieg am Ende seine Versehrten ausspuckt, die Revolution ihre Kinder frisst und die spanische Grippe in den Dörfern wütet, stirbt ein Wolf und ein anderes wildes Tier schärft seine Krallen. Noch ist Mussolini unbedeutend und am Anfang seiner Laufbahn. Die Bauern, die sich durch Streik und Aufstand etwas Freiheit erobert haben, steuern direkt auf das nächste Joch zu. Karg und freudlos erlebt die Familie Ceresa ihren Untergang. Träume vom besseren Leben enden in Schweiß und Blut. Zwei ungleiche Brüder, eine infame Lüge und die Niedertracht der Kirche bestimmen das Schicksal der Familie. "Ihre Körper waren dazu da, verletzt zu werden." Und doch reicht die Hoffnung am Ende denen die Hand, die bereit sind an sie zu glauben.
Schwer und dunkel aber nicht ohne Schönheit wird hier von einer Zeit erzählt, die das Leben in seinen Grundfesten erschüttert. Und zeigt, wie sehr der Mensch am Leben hängt...
Tolles Buch!
Unbedingt lesen!
 

Weißt Du wieviel Sternlein stehen...

Christine Wunnicke:"Die Dame mit der bemalten Hand" (Berenberg Verlag) | 12.10.2020
Die Kassiopeia, fast immer zu sehen und bestehend aus vielen anderen Leuchtpunkten, ist eines der wenigen Sternbilder, die jeder kennt. Wie der Name entstanden ist und wie schwer es ist den Himmel zu vermessen und die Erde noch gleich mit dazu, liest sich wie ein Fiebertraum aus einer anderen Welt.
Und das ist es vielleicht auch?! Doch zu gerne möchte man glauben, dass Carsten Niebuhr, ein Mathematiker aus dem Bremischen und der Astronom Musa al-Lahuri aus Persien, auf einer unwirtlichen Insel kurz vor Bombay im Jahr 1764, ihre Lehren teilen. Da wird hitzig über die Wissenschaft im Allgemeinen und die Sternbilder im Besonderen diskutiert, der Nachthimmel  akribisch auseinandergenommen und wo der eine nur die bemalte Hand sieht, schaut der andere gleich die ganze Dame. Um sich die Zeit bis zur Rettung zu vertreiben, erzählen (und erfinden) beide Männer Geschichten von ihren jeweiligen Reisen, aus ihrer Heimat und von ihren Familien, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Während der Bremer im Fieber liegt und der Scheich fieberhaft fabuliert, erfahren wir auf höchst spannende Art und Weise eine illustre Geschichte der Wissenschaft  und Lebenskunde aus einer längst vergangenen Zeit.
Was für ein Buch!
So klug, mit viel Situationskomik und großer Eleganz geschrieben. Ein sprachliches  Feuerwerk und auf der shortlist des deutschen Buchpreises genau richtig. Könnte alle anderen auf die Plätze verweisen....
Lesen!
Unbedingt lesen!

These boots are made for walking.

Charlotte McConaghy: "Zugvögel" (S. Fischer) | 5.10.2020
Franny kann nirgendwo lange bleiben, ist immer unterwegs, muss ständig in Bewegung sein. Verlässt die denen sie am Herzen liegt, um ihrer einzigen Liebe, dem Meer und den Küstenseeschwalben zu folgen. Als die Vögel zu verschwinden beginnen, beschließt die Ornithologin mit einem der letzten Fischerboote auf eine gefährliche Expedition zu gehen. Die zusammengewürfelte Crew ist schwierig, nicht gerade auf Frannys Seite und fürchtet die unwegsame Arktis. Während Franny mit den Tücken des Schiffes kämpft, sich als vollwertiges Mitglied der Mannschaft zu etablieren versucht, lässt der Atlantik seine Muskeln spielen und Franny langsam mit der Crew zusammenwachsen. Die Vögel sind Kompass und Versprechen zugleich, dem Meer längst leer gefischt,  einen letzten großen Fang abzutrotzen. So wie jeder der außergewöhnlichen Seeleute  seine Leiche im Keller hat, kommt auch Franny nicht umhin, sich ihrer Vergangenheit und ihren Abgründen zu stellen...
Gute Anschlussliteratur an den "Gesang der Flusskrebse". Etwas wilder, etwas mehr Abenteuer und etwas weniger romantisch.
Lesen!

Blutgrätsche durchs Nadelöhr.

Tonio Schachinger: "Nicht wie Ihr" (Rowohlt Taschenbuch) | 1.10.2020
"Oider"! Das is ja mal ein Debüt! Egal ob man fußballaffin ist oder nicht: Starkicker Ivo versenkt seine Geschichte genau zwischen die Herzpfosten. Ist talentiert, sexy, cool - und sehr von sich überzeugt. Ivo hat alles, was ein Mann sich wünschen kann. Ein schnelles Auto, eine Frau die sein Leben managt, zwei reizende Kinder, Haus mit Pool - und doch...
Als seine große Liebe Mirna wieder auftaucht wird Ivo plötzlich klar, dass sein Leben im Fußballkäfig eine einzige Farce ist. Zwischen Training, Spielen, Spielersitzungen, weiteren Spielen und noch mehr Training, fragt Ivo sich wo eigentlich das Leben stattfindet. Und beschließt endlich loszulegen...
Auch hier geht's am Ende nur um das, was wirklich zählt und für kein Geld der Welt zu kaufen ist: die Liebe.
Mit göttlichen Fußballtermini gespickt, viel Wiener Schmäh und deftigen Dialogen, hat dieser Roman alles was man für eine vergnügliche Lesezeit braucht.
Lesen!
Unbedingt lesen!

Oh Winona!

Sebastian Barry: "Tausend Monde" (Verlag Steidl) | 30.9.2020

Tennessee, 1873. Nach dem verlorenen Bürgerkrieg haben Thomas McNulty, John Cole und das Lakota-Mädchen Winona endlich als Familie auf der Farm von Lige Magan ein Zuhause gefunden. Doch das Glück währt nicht lange. Die Banken sind pleite, das Land ist tief gespalten, hungert und gibt die Schuld den eingewanderten Iren, gescheiterten Unionssoldaten und allen übrig gebliebenen Ethnien. Im Streit um die Aufhebung der Sklaverei, wird mehr gelyncht, gefoltert und getötet denn je. Der Ku-Klux-Klan wittert seine Chance, zieht mordend und plündernd durchs Land und macht selbst vor Weißen nicht halt. Winona, fast erwachsen, klug und gut gebildet wird von einem weißen Nachbarsjungen umworben. Eine Lawine der Ablehnung, des Hasses und brutaler Übergriffe wird losgetreten, die alle Mitglieder der Farm in größte Gefahr bringt.
Wie in "Tage ohne Ende" wird die Geschichte der Depression während und nach dem amerikanischen Bürgerkrieg erzählt. Eine Geschichte über Rassismus und politische Fehlentscheidungen. Über blindes Vertrauen und wahre Freundschaft. Über Hass, Rache und am Ende auch über Liebe und die Fähigkeit einander zu vergeben.
Lesen!
Unbedingt lesen.

 


Auge um Auge Zahn um Zahn!

Charles Lewinsky: "Der Halbbart" (Diogenes Verlag) | 25.9.2020

Ein "Grenzkonflikt" zwischen Pest und Hexenverbrennung.
So wie der Sebi nicht aufs Feld gehört, in keine Soldatenuniform passen will und schon gar nix im Kloster verloren hat, ist der Halbart für alles, was Mühe, Arbeit und Verdruss macht wie geschaffen. Ein geflohener Jude, einer der "ins Feuer gehört" und grad noch mit dem Leben davongekommen ist.
Im Gesicht halb verbrannt und die andere Hälfte mit wildem Bart versehen, findet der Einsiedler in der Nähe eines kleinen schwyzer Dorfes Zuflucht.Weil dem Halbbart die Worte fehlen, zu grausam war das Progrom, dem er zum Opfer fiel, erschafft der kleine Eusebius ihm kurzerhand einen Lebenslauf. Manchmal muss man Geschichten erfinden, umdenken oder neu zusammensetzen. Und wenn die Geschichten dann richtig gut sind, erschaffen sie eine Wirklichkeit - können trösten, Hunger stillen und sogar Leben retten. Im Mittelalter geht man nicht zimperlich miteinander um. Kirchliche und weltliche Obrigkeiten führen ein hartes Regiment.
Da wird gemordet und gemeuchelt, verbrannt, "geviertelt und geteilt", dass es einem die Schuhe auszieht. Und nachdem die Söldner aus den Kriegen in Italien zurückkehren, hat selbst im Dorf, wo alle versuchen friedlich miteinander auszukommen, keiner mehr was zu lachen. Dabei wollen alle eigentlich nur den habsburger Machtansprüchen den garaus machen. So ersinnen Sepi und der Halbbart eine kluge List, die die auf Krawall gebürsteten Soldaten beruhigt und den Habsburgern eine vernichtende Niederlage beschert.
Ein Hochgenuss! Äußerst sprachgewaltig wird hier fabuliert und ganz nebenbei lernt man noch so einiges über die historische Schlacht von Morgarten. Mit den wachen Augen eines einfachen Kindes, das weit über den Rand seines Dorfes blickt, schaut man auf eine Geschichte die sich vielleicht  so zugetragen hat - vielleicht aber auch nicht...
Schade, dass sich der Halbbart nicht auf der Shortlist positionieren konnte. Hat mehr Zeug dazu als Hettches "Herzfaden". Würde ich sagen! Aber mich fragt ja mal wieder kein Schwein.
Wir sollten unsere Smartphones, Computer und Fernseher einfach aus dem Fenster schmeißen und uns aufs Geschichten erzählen verlegen. Könnte helfen!
Lesen!
Unbedingt lesen!


War Klaus schwul oder kann nur ein Peter Pan die Welt retten?

Ben Lerner: "Die Topeka Schule" (Verlag Surkamp) | 22.9.2020

Während Adam sich auf seinen High School Abschluss vorbereitet, scheitert das "Debattier Wunder" an sich selbst und der Orientierungslosigkeit einer ganzen Generation weißer, priviligierter amerikanischer Jungs. Die Sprache als Vehikel gedacht funktioniert nicht mehr. Vater Jonathan, ausgewiesener Experte im analytischen Umgang mit "verlorenen Mann-Kindern" erkennt die verzweifelte Sprachlosigkeit des eigenen Sohnes nicht oder viel zu spät.
Jane, Adams Mutter, eine berühmte feministische Autorin weiß, wie Sprache zum gefährlichen Schweigen werden kann oder einem die Worte im Mund verdreht werden. Und Darren, psychisch labil, in einer permanenten Opferrolle, Patient von Jonathan und das reinste Pulverfass, hat viele Worte, die keiner hören will. Was sagen wir, wenn wir etwas sagen? Was meinen wir und was versteht das Gegenüber? Wer bestimmt, was, wo gesagt werden darf?
In Topeka, am Arsch der Welt, herscht Ordnung, solange alle die gleiche Meinung haben, Frauenfeindlichkeit und Homophobie ausgeblendet werden und religiöse Fanatiker politische Bildung vermitteln dürfen. Und wehe, da kommt eine und sagt, wie es auch anders und sogar besser gehen könnte...
Um die Jahrtausendwende versucht eine dysfunktionale Familie sich zu retten, während das ganze Land auf ein großes Desaster zusteuert. Nicht ohne Witz und mit viel Situationskomik lesen wir uns in die Ära Trump ein, ohne es zu merken. Warum und wieso dieser Verrückte und seine Vasallen soweit kommen konnten, fällt einem (nochmal und immer wieder) wie Schuppen von den Augen. Und die alte Weisheit, "dass "nichts so schlecht, dass es nicht für irgend etwas gut ist" hilft da auch nicht wirklich weiter.
Was für ein Buch!
Brilliant! Unglaublich! Für mich der "beste Lerner" und neues Lieblingslieblingslieblingsbuch!
So klug! So witzig! So scharfsinnig!
Hammer!
Lesen!
Unbeding Lesen! (Das ist ein Befehl!)
 

 


Zwischen den Fronten!

Anne Weber: Annette, Ein Heldinnen-Epos (Matthes& Seitz) | 9.9.2020
Mit ausgeprägtem Sinn für Gerechtigkeit (die Sie selbst nie wirklich erfahren  wird) tritt Anne Beaumanoir  trotzig,  jung und voller "idealistischer Flausen im Kopf" der kommunistische Résistance bei. Sie überbringt, vermittelt und kundschaftete aus, lernt ihre große Liebe kennen, studiert Medizin und lebt ganz im humanistischen Sinne: Menschen zu helfen. "Wer Annette kennt, hat immer ein Dach über dem Kopf"(...)
Sie rettet jüdisches Leben, vereitelt Attentate und sieht sich plötzlich auch in der Pflicht, im Algerienkrieg auf der richtigen Seite zu stehen. Die Unabhängikeitsbewegung FLN lässt sie die Fronten wechseln und bringt ihr 10 Jahre Gefängnis ein. Aber wo ist die richtige Seite? Wie weit darf oder muss man gehen?
Auf der Flucht lässt Annette alles zurück - auch ihre Kinder. Sie gelangt nach Tunesien und später, unter Ben Bellas ersten demokratischen Regierungsjahren, nach Algerien. Immer bleibt sie eine Fremde. Muss erkennen, dass Recht haben  nicht auch Recht bekommen heißt. Nachdem ein Staatsstreich sie erneut in die Flucht treibt, kehrt Annette irgendwann nach Frankreich zurück...
Die großrtige Anne Weber schafft eine Bühne für eine Frau, die viel erlebt und viel zu erzählen hat. Kein Roman und doch einer. Alles ist wahr, manches unvorstellbar und kaum zu glauben. Provokant, reflektiert und mit einigem Augenzwinkern, erzählt eine wahre Heldin vom Leben im Widerstand.
Dieses Buch lesen zu dürfen, ist ein großes Glück!
Beiden Frauen wünsche ich aus tiefstem Herzen den Deutschen Buchpreis 2020!
Lesen!
Unbedingt lesen!

Produktive Untergangsstimmung am Ende der Komfortzone!

Jonas Eika: "Nach der Sonne" (Verlag Hanser Berlin) | 26.8.2020
Fünf Geschichten wie fünf Elemente. Bei phosphoreszierendem Sperma, gallertartigem Wasser, außerirdischen Schreien und "einstürzenden Neubauten" kommt man sich vor, wie in einer Action Painting-Pollock Performence.
Dieses Buch ist zugleich wild und zart, bunt und kreidebleich, laut und  mucksmäuschenstill. Eine Tour de Force durch das, was wir Leben nennen. Schön im Sonnenschein - kalt und unerbittlich bei Nacht.
Von Beach Boys in Cancun wird erzählt, die nur scheinbar den Feriengästen zu Diensten sind. Einem Reisenden, der sich in Devirate verliebt, sich darin verliert während seine Bank in einem tiefen Krater verschwindet. Von einem "bad mexican dog" ist die Rede, der den geizigen Gymnasiallehrer in den Ruin treibt. Einer Obdachlosen, die sich in Londons Trümmern eine Familie sucht und wieder verliert. Und von einem alten Ehepaar wird berichtet, dessen Verlust beider Töchter nur mit außerirdischen Hilfsmitteln zu ertragen ist.
Es gibt Selbstoperationen am offenen Kehlkopf, Tötungsdelikte und Wiederauferstehungsrituale. Böse und gut wechselt ständig die Perspektive. Nichts ist eindeutig. Oft ist es traurig meistens absurd und immer etwas klebrig von zu vielen Körperflüssigkeiten. Auf keinen Fall aber ist es langweilig!
Was für ein außergewöhnliches Buch. Krass und prall und gut!
Lesen!
Unbedingt lesen!

Wahrheit oder Pflicht!

David Grossman: "Was Nina wusste" (Verlag Hanser) | 17.8.2020
Drei Frauen, drei Generationen, drei Schicksale. An Großmutter Veras rundem Geburtstag soll endlich ein altes Familiengeheimnis gelüftet werden. Enkelin Gili und ihr Vater wollen mit Vera, ihrer Tochter und Gilis Mutter Nina nach Kroatien fahren. Gili möchte einen Film über die Großmutter drehen, ihre Lebensgeschichte dokumentieren. Auf der ehemaligen Gefängnisinsel Goli Otok war Vera unter Tito viele Jahre in einem Lager interniert. Ihr Kind allein zurücklassend, entschied sie sich gegen die Möglichkeit,sich durch ein Geständnis freizukaufen. Nina mit 6 Jahren auf sich gestellt, schlägt sich durch und überlebt. Der Preis, den beide Frauen dafür zahlen ist hoch und hinterlässt noch in der dritten Genaration seine Spuren. Nina verschwindet ebenfalls früh aus Gilis Leben.
Auf der berschwerlichen Reise und der unwirtlichen Insel nähern sich die Frauen an und Vera kann sich endlich erklären. Auch Nina hat eine schwere Bürde zu tragen, die sich am Ende auf die Schultern der anderen verteilen lässt...
Eva Panic-Nahir hat David Gossman ihre Geschichte erzählt. "Was Nina wusste" beruht auf realen Tatsachen und ist ein zutiefst humanistisches Buch. Spannend erzählt und mit viel Raffinesse führt Grossman den Leser zurück in ein diktatorisches Jugoslawien und die grausamen Machenschaften der Geheimpolizei und worauf es im Leben akommt. Wahrheit oder Pflicht?
Großartig!
Lesen!
Unbedingt lesen!