Das Schweigen der Lämmer

Ottessa Moshfegh:"Lapvona" (Verlag Hanser Berlin) | 6.2.2023
Ein verrückt gewordener Fürst, der aus Langeweile seine Untertanen trangsaliert, verhungern und verdursten lässt. Ein Priester, der die Bibel vergessen hat und nur zum eigenen Vorteil predigt. Eine Amme, die sich an Menschenfleisch labt und die Welt mit Pferdeaugen betrachtet. Ein missgestalteter Junge, dessen bösartiger Vater nur den Lämmern seiner Schafsherde wohlgesonnen ist und seinen Sohn, ohne mit der Wimper zu zucken, am Hof des "Königs" verramscht. Es wird gestohlen, geschlagen und gefoltert, vergewaltigt und verreckt, was das Zeug hält.
Das reinste "Sodom und Gomorrha" in einer Zeit, die irgendwo im Mittelalter verankert scheint. Die meisten Menschen sind böse, stumpf und seelenlos. Wer kann, verschwindet in den Tiefen des Waldes doch auch dort ist von einer besseren Welt keine Spur. Das Grauen lauert hinter jedem Baum und lässt weder Mensch noch Tier aus. Am Ende schließt sich geschickt ein Kreis und lässt uns grübelnd (und staunend) zurück.
Ein krasses Spektakel und nur den Tapfersten unter uns zuzumuten. Ein Meisterwerk an literarischer Finesse und ein Konglomerat menschlicher Grausamkeiten. Wie eh und je taugt der Mensch zu nicht viel gutem und muss erst alles zerstören, um sich neu erfinden zu können. Man denkt an "Das Parfüm" und "Game of Thrones" und nicht zuletzt an die Welt, in der wir heute leben. Auch wenn das alles überzeichnet und kaum auszuhalten ist, gibt es viele hässliche, brutale Parallelen zu unserer Gesellschaft, die sich einfach nur in hübscheren Gewändern zu verbergen weiß.
Lesen (wenn man sich traut)!

Die Makulaturen des Kaiserreichs im Fiebertraum verbrannt

Raphaela Edelbauer:"Die Inkommensurablen" (Verlag Klett-Cotta) | 31.1.2023
In der letzten Nacht, die Österreich noch vom Ende der Monarchie und dem ersten Weltkrieg trennt, treffen drei junge Menschen aufeinder, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Klara, die als erste Frau in Mathematik promovieren wird. Adam, der vom adeligen Elternhaus zum Kriegsdienst gezwungen wird und Hans, ein Tiroler Pferdeknecht, der sich einer Wiener Psychoanalytikerin offenbaren möchte. Wie bei Dantes "Göttlicher Kommödie" gelangen die drei Getriebenen von einem Höllenkreis in den anderen. Sie nutzen diese eine Nacht, um mit Alkohol, Drogen, Traumdeutung und viel Hokuspokus, den Sinn des Seins zu verstehen. Wien steht Kopf, unter den jungen Männern gibt es kein Halten mehr, in Scharen laufen sie dem "Rattenfänger Krieg" hinterher. Obwohl Wien eine Metropole und an Kultur, Schönheit und Dekadenz kaum zu überbieten ist, zeigt sich im nächtlichen Aufruhr die hässliche Fratze der Stadt. Jenseits des inneren Rings, einer Kloake ähnlich, verschlingt der Sumpf der Armut ihre Bewohner und öffnet dem Krieg als Lösung Tür und Tor. Zwischen Traum und Wirklichkeit, mathematischen Exkursen und historischen Versatzstücken katapultiert uns Edelbauer in eine düstere Zeitenwende.
Völlig irre und fern bekannter Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg. Aber durchaus nachvollziehbar und wahnsinnig spannend. Atemlos folgt man Klara, Adam und Hans. Gruselt sich, ekelt sich, kennt den Ausgang und wünscht doch, es möge einer kommen, den Vorhang senken und und das "Watschenkonzert" mit gutem Ausgang beenden.
Lesen!
Unbedingt lesen!

On Fire - im Wechselbad der Gefühle

Dana Spiotta:"Unberechenbar" (Kjona Verlag) | 29.1.2023
Weil Sam unter hormoneller Schlaflosigkeit leidet, klickt sie sich nachts durch die Portale der Immobilienmakler. Als sie spontan ein Haus anfragt, die erste Anzahlung leistet und schließlich unbedingt diese charmante Bruchbude erwerben will, wird ihr klar, dass sie auf dem besten Weg ist, Mann,Tochter und ihr behütetes Leben zu verlassen. Im Feuer der Wechseljahre, der größten Krise im Leben einer Frau, entfacht sich nicht nur Wut, launiger Stimmungswechsel, Empathielosigkeit und eine große Distanz zu Ihrer Familie sondern auch der brennende Wunsch nach Veränderung. Ihr Blick auf die Gesellschaft schärft sich. Belangloses wird ihr zuwider, die permanente Selbstoptimierung ihrer Mitstreiterinnen, während die Welt vor die Hunde geht, ist nicht mehr ihr Ding. Zornig und provokant lernt Sam zu fühlen, was sie wirklich fühlt, zu sagen, was sie denkt und ein anderes Selbstbewusstsein zuzulassen. Natürlich hat alles seinen Preis und der neue Lebensabschnitt ist nicht ganz ungefährlich...
Das ist gut! Das ist sehr gut! Frei von allen Klischees, schreibt Spiotta über einen Zustand,der für uns Frauen, wenn die Hormone verrückt spielen, schwer auszuhalten ist. Das Klimakterium verändert uns nachhaltig, die Frage nach dem Sinn des Lebens und ob man als Frau überhaupt noch wahrgenommen, gesehen wird, stellt sich mehr denn je. Wie diese Zeit verändert, verletzt aber auch stark macht, ist so klar noch nie zu lesen gewesen. Großartig!
Lesen!
Unbedingt lesen!

Essen um Sechs!

Bonnie Garmus:"Eine Frage der Chemie (Verlag Piper) | 9.1.2023
Weil man Elizabeth Zott jeglichen beruflichen Erfolg versagt, ihre Forschungsergebnisse unter einem männlichen Pseudonym veröffentlicht, verlässt die alleinerziehende Mutter ihren Platz am Hastings Institut, um die Kochshow "Essen um Sechs" zu etablieren. Aus Überzeugung versucht Zott die vornehmlich weiblichen Zuschauerinnen mit Rezepten und feministischen Ratschlägen davon zu überzeugen, dass Hausfrauen die eigentlichen Hedinnen der Nation sind, die Familie und Welt zusammenhalten. Ganz nebenbei leitet sie jedes Nahrungsmittel von einer chemischen Formel ab. Alles ist Chemie. Selbst die Liebe! Stimmt die Chemie, kann nichts schief gehen. So einfach ist das! Im Amerika der 60er Jahre allerdings, war es alles andere als einfach für nicht verheiratete Frauen Liebe, Kinder und Karriere selbstbestimmt unter einen Hut zu bringen. Wie Zott das ändert, sich selbst und viele Frauen aus ihrem Schattendasein herausholt, ist grandios, äußerst klug und ziemlich witzig. Ganz nebenbei wird eine große tragische Familiengeschichte erzählt, die zutiefst berührt und dennoch zuversichtlich stimmt.
Dieses Buch ist zum Niederknien, macht gute Laune und sollte in keinem Haushalt fehlen!
Lesen!
Unbedigt lesen!

Im Herz der Finsternis

Mohamed Mbougar Sarr:" Die geheimste Erinnerung der Menschen" (Verlag Hanser) | 3.1.2023
Was macht Literatur mit denen, die sie lesen und denen die sie schreiben? Soll alles aufgeschrieben und erzählt werden, was es aufzuschreiben und zu erzählen gibt? Wer darf überhaupt Geschichte(n) erzählen? Wer darüber urteilen? Und vor allem, nach welchen Kriterien? Hautfarbe? Geschlecht? Herkunft? Religion? Kultur? Sozilisation? Ob er oder sie lieber Katzen oder Hunde mag? Oder vielleicht doch nur nach den wesentlichen Kriterien: dem Wahren, Schönen und Guten? Was aber ist wahr? Was schön und was gut? T. C. Eliman hat 1938 mit seinem einzigen und  unvollendetem Opus Magnum "Das Labyrinth der Unmenschlichkeit" die literarische Welt in ihren Grundfesten erschüttert und vor allerhand Rätsel gestellt. Wer war dieser junge Mann aus dem Senegal? Einen "schwarzen Rimbaud" nannten ihn die einen, einen gewieften Betrüger, die anderen. Ein Plagiatsvorwurf und die einhellige Meinung, dass ein schwarzer Enkel des Kolonialismus niemals zu solch Hochlitertur fähig sei, befördert den jungen Künstler schnell vom Olymp in den Hades. Fast alle Bücher werden aus dem Verkehr gezogen und vernichtet. Der Autor verschwindet und leckt im Verborgenen seine Wunden.
Viele Jahrzehnte später stößt der junge Doktorand Diégane Latyr Faye  auf "Das Labyrinth des Unmenschlichen"und taucht tief in die Geheimnisse des "Schattenautors" ein, der noch immer auf die Vollendung seines Romans wartet. Während sich Diégane von der Macht der Literatur immer weiter auf verschlungene Wege führen lässt, kommt er einer mörderischen Verführung und einem Vexierspiel auf die Spur...
Was für ein Meisterwerk! Grandios! Großartig! Umwerfend! Kaum zu beschreiben und eine irre Mischung aus Roberto Bolano, Joseph Conrad und C. Ruiz Zafón. Spannend wie der "Schatten des Windes" nur viel, viel literarischer und komplexer. Ein Wahnsinn dieses Buch und ein verdienter Prix Goncourt!
Lesen!
Unbedingt lesen!

Gefährliche Liebschaften

Douglas Stuart:"Young Mungo" (ab März bei Hanser Berlin) | 30.12.2022
Zwischen Protestanten und Katholiken darf es keine freundschaftliche Verbindung geben. Schon gar nicht von homosexueller Art. Während der gewalttätige Hamish versucht, seinen jüngeren Bruder Mungo zum Mann werden zu lassen, liebt Schwester Jodie ihn für seine weiche, zarte Art. Mungos Mutter, meistens betrunken und ständig überfordert, überlässt ihre Kinder am liebsten sich selbst und gesteht ihnen nur selten etwas Führsorge zu. Dass mit ihrem hübschen, engelsgleichen Jüngsten "irgendwas nicht ganz in Ordnung ist" muß in einem  Arbeiterviertel in Glasgow nicht an die große Glocke gehängt werden. Prügelstrafen und Abhärtungsstrategien sollen den Jungen auf Kurs bringen. Jedes Mittel ist recht.
Als Mungo James kennenlernt, der ihm zeigt, dass Liebe gut und immer richtig ist, solange sie von beiden Seiten ausgeht, lässt sich Mungo auf ein gefährliches Doppelleben ein....
Ein Roman über Homophobie, Armut, Gewalt und toxische Männlichkeit. Und ein Lehrstück über wahre Liebe und den Mut sich selbst zu befreien.
Was für ein Buch! So traurig, so brutal und so wunderschön! Kaum auszuhalten und trotzdem nicht wegzulegen! Das wird das erste Buch des Jahres 2023!

Suche Arbeit! Mache alles!

Dirk Stermann: "Maksym" (Rowohlt Verlag) | 8.12.2022
Wer wissen will, warum man wenigstens einmal im Leben gegen einen Bären kämpfen sollte, ein ukrainischer Boxer und Türsteher, der bessere Babysitter ist und was Radiergummis mit Liebe zu tun haben, ist hier genau richtig. Im Abgesang auf die "gschissene Gesellschaft" lernt man was fürs Leben. Wie immer bei Sterman wird gewonnen und verloren und alles auf eine Karte gesetzt. Im Scheitern ist er richtig gut, der Banksy-Vater, der nie da ist und uns teilhaben lässt an schönen und schrecklichen Momenten der "Celebrities" im Burgenland. Grotesk und herrlich komisch demontiert der Autor sich selbst und entführt uns in die bekannte Welt der familiären Grausamkeiten. Als Frau Nina nach Amerika berufen wird, muss der alte weiße Mann seinen Vaterpflichten nachkommen und sich wohl oder übel auf einen Handel mit der "Unterwelt" einlassen.
Das ist ganz großes "Gefühlskino" ohne kitschig zu sein. Absurd, tragisch, brutal komisch und immer nachvollziebar. Am Ende werden die Augen feucht, das Herz geht einem auf und man weiß: die schaffen das, die kriegen das hin. So wie immer bei Stermann, hat alles seinen Preis und jeder kriegt (jedenfalls meistens) was er verdient...
Lesen!
Unbedingt lesen!

Ich sehe was, was Du nicht siehst

Eckhardt Nickel:"Spitzweg" (Verlag Piper) | 2.12.2022
Was ist Kunst? Was sagt sie uns? Über uns selbst, unsere Geschichte, unsere Wünsche und Träume, unsere dunklen Seiten?  Was sieht man, wenn man ein Gemälde betrachtet, und was sehen die Anderen? Was steckt dahinter? Gibt es eine Botschaft?
Mit dem "Hagestolz" von Spitzweg ist das so eine Sache. Drei junge Menschen, die sich gar nicht, wenig oder obsessiv mit Kunst beschäftigen, stellt die Spätromantik, eine Ausstellung im städtischen Musem, das Verschwinden eines Geäldes und nicht zuletzt die Liebe auf eine seltsame Probe. In einem Zeitalter ohne Handy, Laptop und Spielkonsole gibt es viel Raum für Langeweile und philosophische Lebensfragen. Man geht noch raus, trifft sich unverabredet, ist einander zugewandt oder versucht sich gegenseitig eins auszuwischen ...
Die drei Außenseiter lassen sich auf ein Experiment ein, ein Vexierspiel und Schelmenstück, das am Ende die Gimmicks der Gegenwart überstrahlen wird. Die Einsicht, dass nichts ist, wie es ist, und man sich selbst nicht immer trauen kann, kommt so erstaunlich daher wie das  Mysterium der Jugend und die Erkenntnis, dass wir alle nur ein Abbild unserer Existenz sind.
Großartig! Schön schrullig, mit viel klugem Witz und Charme ein Finger in die Wunde der Eitelkeit gelegt!
Lesen!
Unbedingt lesen!

Die Lunte brennt!

Robert Menasse:"Die Erweiterung" (Suhrkamp Verlag) | 29.11.2022
Der goldene Helm des Nationalhelden Skanderbeg soll dem Ministerpräsidenten Albaniens endgültig zu gerechtem Stand und (Beitritts-)Status verhelfen. Die historische Kopfbedeckung liegt zwar in einem Wiener Museum, lässt sich aber wunderbar als Kopie vervielfältigen. Und glänzender und größer soll der Helm ohnehin sein. Der arme Schmied, der sich dieser Aufgabe annimmt, landet im Gefängnis, den Burschen, die ihm an dunkler Ecke den Helm entwendet haben, droht ebenfalls nichts Gutes. Während Europol nach der goldenen Mütze, die gleich zweimal verschwindet fahndet, der albanische Ministerpräsident versucht auf einer Kreuzfahrt die Außenminister der EU-Mitgliedstaaten doch noch für die albanische Erweiterung zu gewinnen, überschlagen sich die Ereignisse. Warum will der polnische Ministerpräsident Albanien partout nicht mit im "europäischen Boot" haben? Wegen Korruption, der albanisch-italienischen Mafia, der "blauen Banane" oder aus ganz persönlichen Gründen? Sein einstmals bester Freund und Mitkämpfer im polnischen Untergrund jedenfalls, sitzt in Brüssel und versucht alles, um den "Blutsbruder" von damals umzustimmen. Aus den beiden Freunden sind erbitterte Feinde geworden, der Verlauf der gemeinsamen Geschichte verkehrt sich ins Gegenteil.
Und viele Köche verderben den Brei! Je mehr für oder gegen den Beitritt Albaniens arbeiten, umso diffuser wird das Unterfangen, und bald weiß keiner mehr, um was eigentlich wirklich geht.
Ein herrliches Verwirrspiel und ein tiefer Einblick in die Machenschaften der Europäischen Union und die Geschichte Albaniens. Zwischen Brüssel und dem Balkanstaat wird die Jagd nach dem goldenen Helm ein politisches und kulturelles Kabinettstückchen, das seinesgleichen sucht ...
Großartig, umwerfend komisch und sehr erhellend!
Lesen!
Unbedingt lesen!

Shalom und habe die Ehre!

Shelly Kupferberg: "Isidor" (Verlag Diogenes) | 18.11.2022
Ein jüdisches Leben zwischen den Kriegen. Vom Habsburgerreich über Israel nach Wien wird die Geschichte des charismatischen Parvenü, Lebemann und Schöngeist Dr. Isidor Geller erzählt. Schlechter Ehemann, großzügiger Liebhaber, Berater des österreichischen Staates, Kunstsammler, Opernfreund und Millionär. Für kurze Zeit jedenfalls. Der assimilierte Kommerzialrat wird am Ende nicht reich genug sein, das eigene Leben in Gold aufzuwiegen. Doch bevor die Nazis den Anschluß ans Deutsche Reich erzwingen, die Wiener Kaffeehäuser "hunde- und judenfrei" werden, sich nach Amerika rettet wer kann, erzählt Shelly Kupferberg die Novelle einer schillernde Figur der Zwanziger Jahre. Auf den Spuren Ihres Großonkels, lässt sie die auferstehen, die schon längst vergessen sind und Revue passieren, was in den obersten Kreisen Wiens damals en vogue war. Ein Entwicklungsroman vom "Hans im Glück" zur "Pechmarie". Vom Aufstieg und Fall eines klugen Mannes, der am Ende nicht klug genug war...

Lesen!
Unbedingt Lesen!